Katja Hofmann

Der Fall Lena

Ein Escape Game im Landkreis Rotenburg macht erlebbar, wie subtil und gefährlich patriarchale Gewalt eskalieren kann. Katja Hofmann war bei der Eröffnung vor Ort.

Gleichstellungsbeauftragten des Landkreises Rotenburg (wümme), Katja Wesse, und Landrat Marco Prietz begutachten erste Hinweise.

Gleichstellungsbeauftragten des Landkreises Rotenburg (wümme), Katja Wesse, und Landrat Marco Prietz begutachten erste Hinweise.

Bild: Kaho

Rotenburg. Der Aufenthaltsraum im Landkreisgebäude sieht aus wie ein Wohnzimmer einer Kleinfamilie. Eine Couch steht in einer Ecke, ein Schreibtisch in der anderen, dahinter ein geöffneter Umzugskarton. Eingerahmte Baby- und Pärchenfotos zeigen immer dieselben zwei Personen: „Lena“ und ihren Freund „Tobias“. Ist dies die gemeinsame Wohnung eines glücklichen Pärchens? Nein – es ist ein Schauplatz häuslicher Gewalt. Ein fiktiver Schauplatz, klar, und zur Vermittlung des Themas von Gewalt gegen Frauen und Mädchen.

Alle zwei Minuten

Der Kampf gegen Gewalt an Frauen und Mädchen ist eine anhaltende gesellschaftspolitische Herausforderung. Medienberichten zufolge hat die Zahl der polizeilich registrierten Betroffener häuslicher Gewalt in Deutschland im Jahr 2024 einen neuen Höchststand erreicht. Demnach wurden 265.942 Menschen als Betroffene erfasst – so viele wie noch nie seit Beginn der bundesweiten Erhebung. Dies entspricht einem Anstieg von rund 3,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr, im Fünfjahresvergleich ist ein Anstieg von fast 14 Prozent zu verzeichnen. Das bedeutet, dass in Deutschland durchschnittliche alle zwei Minuten ein Mensch Gewalt im sozialen Nahraum erlebt. Rund 73% der Betroffenen sind Frauen. Besonders häufig ging die Gewalt von Partnern oder Ex-Partnern aus: Im Bereich der Partnerschaftsgewalt wurden etwa 171.100 Fälle registriert, was einem Plus von etwa 1,9 Prozent entspricht. Fast 80 Prozent der Betroffenen in diesem Bereich sind weiblich. Die Täter sind in drei von vier Fällen Männer.

Aufklärung über diese spezifische Form der Gewalt - über Misogynie - erfolgt meist in Form von Vorträgen, Ausstellungen oder Kundgebungen. Formen, die laut der Gleichstellungsbeauftragten des Landkreises Rotenburg (wümme), Katja Wesse, vor allem Menschen ansprächen, die sich bereits für das Thema interessieren. So überlegte sie, ob man es nicht auch spielerisch vermitteln könnte. Die bündige Antwort: Es geht. In Kooperation mit Business Escape Games (Beescape)verfolgt der Landkreis parallel zu den Orange Days einen revolutionären Ansatz: Der Fall Lena. Ein „Serious Escape Game“.

Gewalt kann überall vorkommen

Ein Escape Room ist ein Live-Gruppenspiel, bei dem ein Team innerhalb einer begrenzten Zeit Rätsel lösen muss, um eine Mission zu erfüllen. In diesem Fall lautet die Mission: über patriarchale Gewalt aufklären.

Ein Escape Game biete einen niedrigschwelligen Einstieg und könne nicht nur in einer ganz anderen Breite auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufmerksam machen, sondern auch neue Zielgruppen erschließen, so Wesse. „Wir wollten neue Wege gehen und die Schülerinnen und Schüler direkt beteiligen. Gezeigt wird kein Umfeld mit körperlicher Gewalt, sondern eine Situation, die auf den ersten Blick nicht so offensichtlich ist“, erläutert Katja Wesse. „Ein Escape-Spiel transportiert spielerisch die Botschaft, dass Gewalt überall vorkommen kann. Die Lerninhalte werden aktiv erlebt statt nur gelesen oder gehört“, ergänzt Tim Heitmann.

Je mehr Ansätze, desto besser

„Der Fall Lena“ wurde für Schulklassen konzipiert. Tim Heitmann von Beescape erklärt: „Die Rätsel können binnen etwa 45 Minuten und in mehreren Teams von je vier bis sechs Personen gelöst werden. Damit orientieren wir uns an der klassischen Schulstunde und der typischen Größe einer Referatsgruppe.“ Besonders wichtig seien natürlich die Vor- und Nachbereitung des eigentlichen Spiels. Landrat Marco Prietz zeigt sich stolz auf die Kooperation. „Wie wir Menschen miteinander umgehen, ist eine wichtige politische Frage. Vor allem, wenn es um den weiblichen Teil der Gesellschaft geht. Frauen beschäftigen Themen, die wir Männer oft gar nicht sehen“, erkennt er. „Und je mehr Ansätze es zu einem Thema gibt, desto mehr Menschen werden erreicht. Deshalb bin ich allen Beteiligten sehr dankbar, dass sie dieses Projekt ermöglichen.“

Zwischen Ermitteln und Lernen

Vom 24. November bis zum 19. Dezember wird der Escape Room mehreren Schulen im Landkreis kostenfrei zur Verfügung gestellt. Simuliert wird das gemeinsame Wohnzimmer von Lena und ihrem Partner Tobias. Das Spiel beginnt mit einem informativen Einstieg. Die Schüler:innen sollen für erste Anzeichen häuslicher Gewalt sensibilisiert werden: Drängende Nachrichten, Vorwürfe, Kontrolle. Dann gibt es ein Ermittlungsprotokoll mit fünf Fragen: Welche verbalen Auseinandersetzungen oder Drohungen ließen sich nachweisen? Gibt es Indizien für die Motive des Täters? Das Ziel des Spiels ist es, alle Fragen mittels der Rätsel im Raum zu beantworten. Es müssen ein Code erraten und ein Schlüssel gefunden, Tobias und Lena kennengelernt und Zusammenhänge geknüpft werden. Am Ende stehen zwei mögliche Ausgänge: Tobias zeigt sich einsichtig, möchte sich verändern und holt sich Hilfe. Oder nicht. Dann ist es an Lena, sich in Sicherheit zu bringen.

Wo Gewalt anfängt

Letzteres Szenario ist erschreckend gängig. Häufig ist es an den Opfern, sich aus unterdrückenden Beziehungen zu befreien. „Doch viele Frauen und Mädchen wissen gar nicht, dass Gewalt nicht erst mit dem klassischen blauen Auge beginnt“, betont Sandra Klencke vom Frauenhaus/BISS. Genau dort setzt die Kooperation an: Psychische und versteckte Gewalt als ebenso problematisch zu erkennen wie körperliche Vergehen und aufzeigen, wo Gewalt beginnt. Im Escape Game sind zudem sämtliche Kontaktdaten und Hilfsangebote des Landkreises Rotenburg (Wümme) eingebaut.

Die UN-Kampagne „Orange the World“ macht seit 1991 auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufmerksam: vom Internationalen Tag zur Beendigung der Gewalt gegen Frauen am 25. November bis zum 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte. Der 25. November wird auch als Tag gegen patriarchale Gewalt bezeichnet, denn die zugrundeliegenden gesellschaftlichen Machtverhältnisse bilden die Grundlage für alle Formen der Gewalt.


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