Seitenlogo
Lena Stehr und Patrick Viol

113 Femizide 

Gewalt gegen Frauen endete letztes Jahr 113 Mal tödlich. Die Täter sind meist (Ex-)Partner, doch als Mörder verurteilt werden sie selten. 

Bild: Ievgen Chabanov

Die Zahlen sind bedrückend: In Deutschland ist jede dritte Frau mindestens einmal in ihrem Leben von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Das sind mehr als 12 Millionen Frauen. Jede Stunde erleiden durchschnittlich 13 Frauen Gewalt in der Partnerschaft. Jeden dritten Tag tötet ein Mann seine (Ex-)Partnerin. Mehr als 100 Frauen, genau 113, sind es 2021 gewesen, wie die Zahlen des BKA belegen, die am 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, vorgestellt wurden.

Die gute Nachricht zum vergangenen Aktionstag: Die Zahl der Todesopfer ist leicht gesunken. Im Jahr 2020 waren es 139, 12 mehr als 2019. Die schlechte Nachricht: Auch wenn ein leichter Rückgang der Todesopfer zu verzeichnen ist, zeige „die Tendenz bei den registrierten Fallzahlen in diesem Kriminalitätsbereich in den vergangenen Jahren kontinuierlich nach oben“, so Präsident des Bundeskriminalamts, Holger Münch.

Die Zahlen stammen aus dem Bericht des BKA zu Gewalt in Partnerschaften, die es seit 2015 erhebt. Insgesamt registrierte das BKA im Jahr 2021 146.655 Fälle von körperlicher und psychischer Gewalt - beispielsweise Nötigung - in einer bestehenden oder ehemaligen Partnerschaft. Die Opfer sind zu 80,3 Prozent Frauen. Der Tatort ist meistens das eigene Zuhause.

 

Erstmals ist von Femizid die Rede

 

Neu in diesem Jahr ist, dass seitens der Regierung die Tötungen als „Femizide“ bezeichnet wurden. „Wenn Männer Frauen töten, weil sie Frauen sind, dann ist es angemessen und auch notwendig, von „Femizid“ zu sprechen“, wie Bundesinnenministerin Nancy Faeser bei der Vorstellung der Zahlen erklärte.

Der Begriff Femizid kommt aus dem Englischen („Femicide“) und wurde 1976 von der Soziologin Diane Russell vor dem Hintergrund geschlechtsspezifischer Hierarchieverhältnisse geprägt. Im Kontext der internationalen Diskussion bezeichnet er die vorsätzliche Tötung von Frauen durch Männer, weil sie Frauen sind. Der Mann töte, weil er sich in dem Glauben wähne, dass die Frau ihm gehöre, er die totale Macht über sie habe.

Vorausgehen Femiziden meist kontrollierendes Verhalten des Ta¨ters, Drohungen, Stalking und Vergewaltigung, wie die Journalistinnen Laura Backes und Margherita Bettoni in ihrem Buch „Alle drei Tage“ aus dem letzten Jahr darlegen. Für ihr Buch haben sie mit Überlebenden von Mordversuchen gesprochen. Sie zeigen anhand der Gespräche nicht nur Muster im Verhalten der Täter auf - ma¨nnliche, sexuelle Besitzanspru¨che spielten bei Femiziden eine zentrale Rolle. Sie bemängeln zudem die Täter- und Präventionsarbeit und decken Fehler in Gesetzgebung und Rechtssprechung oder auch Versagen von Polizei und Jugendämtern auf. Diese Mängel führen die Autorinnen darauf zurück, dass Femizid in Deutschland nach wie vor keinen spezifischen Straftatbestand darstellt. Oft wird nur von Beziehungstaten, nicht von Femizid gesprochen. Backes und Bettoni berichten gar von Fällen, in denen die „emotionale Nähe“ des Mannes zum Opfer zu mildernden Umständen bei seiner Verurteilung geführt habe. Wie aber Faesers Verwendung des Begriff zeigt: Hier scheint sich etwas zu ändern. Das hat auch Bundesjustizministerin Lambrecht in einem Spiegelgespräch mit Backes betont.

 

Bei Stalking sofort Anzeige erstatten

 

Welche Möglichkeiten, sich zur Wehr zu setzten, bestehen aber derzeit, wenn man z. B. Opfer von Stalking wird.

Heiner van der Werp von der Polizeiinspektion (PI) Rotenburg betont, dass Betroffene sich jederzeit an die Polizei wenden sollten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen habe sich gezeigt, dass vor allem schnelles und konsequentes Einschreiten der Polizei gegen Stalkende Wirkung zeige und die Belästigungen nach einer Anzeige häufig aufhörten.

Bei der Polizeiinspektion Rotenburg seien 2021 insgesamt 21 Stalking-Fälle angezeigt worden. In 2022 dürfte es einen vergleichsweise starken Anstieg geben, so van der Werp. Die genaue Zahl dürfe noch nicht veröffentlicht werden. Im Zuständigkeitsbereich der PI Verden/Osterholz wurden im vergangenen Jahr 41 Stalking-Fälle angezeigt, teilt Henryk Niebuhr mit. Betroffene sollten in einer akuten Stalking-Situation nicht zögern, den Notruf (110) zu wählen. Die Polizei nehme derartige Fälle stets ernst, so Niebuhr.

Um sich vor Stalking zu schützen, können Betroffene beim Amtsgericht zudem eine „Einstweilige Verfügung/Schutzanordnung“ nach dem Gewaltschutzgesetz beantragen. Dabei handelt es sich um ein Kontakt-, Näherungs- und Belästigungsverbot.

Bei der Antragstellung helfen Opferschutzorganisationen oder Juristen wie Steffen Hörning, Opferanwalt aus Göttingen und Landesvorsitzender der Opferhilfsorganisation „Weisser Ring“. Es sei essenziell wichtig, dass Stalking-Opfer schnell reagieren und sich an die Polizei, einen Anwalt oder eine Opferhilfsorganisation wenden, damit gegen den Täter vorgegangen werden könne. Ein „erster Schuss vor den Bug“ durch die Polizei oder einen Anwalt zeige häufig schon Wirkung. Mit der Reformierung des § 238 „Nachstellung“ (StGB) vor einigen Jahren sei der Opferschutz zudem einen erheblichen Schritt weitergekommen, so Hörning. Um gegen den Täter vorgehen zu können, reiche es aus, dass dessen Handlungen die Lebensqualität des Opfers beeinträchtigen, ohne dass konkret etwas passiert sein müsse. Vorher sei der Tatbestand erst erfüllt gewesen, wenn das Opfer sich zum Beispiel eine neue Handynummer zugelegt hatte oder umgezogen sei, es also einen „Erfolg“ für den Täter gegeben habe.

Das Kontaktverbot, das die Polizei meistens als erstes ausspreche, bezeichnet der Anwalt als ein „stumpfes Schwert“, da es natürlich nicht alle Täter vom Stalking abhalte. Da aber jeder Verstoß gegen das Verbot eine eigenständige Straftat sei, mache sich der Stalker sofort wieder strafbar. Wenn das Opfer jeden Verstoß unverzüglich zur Anzeige bringe, helfe das in einem späteren Strafprozess enorm. Wichtig sei auch, dass die Opfer alle Kontaktversuche dokumentieren und sichern, zum Beispiel mit Hilfe der Stalking-App des Weissen Rings, und den Täter sowie dessen mögliche Kontaktversuche wirklich komplett ignorieren.

Der Opferanwalt weiß aus eigener Erfahrung aber auch, dass es die Unbelehrbaren gibt, die sofort wieder vor der Haustür ihres Opfers stehen, sobald sie aus dem Gefängnis (in besonders schweren Stalking-Fällen droht eine Haftstrafe von bis zu 5 Jahren) kommen.

 

Es braucht ein Umdenken in der Gesellschaft

 

Das zeigt: Selbst wenn sich die Behörden bemühen, eine wirkliche Sicherheit vor einem bedrohlichen Ex-Partner gibt es nicht. Es sei denn man zieht inkognito in eine andere Stadt und bleibt anonym. Aber wie lebenswert ist ein solches Leben? Die Angst verschwinde nie, wie die Frauen im Buch von Backes und Bettoni erzählen. Deswegen sei ihres Erachtens effektiver Schutz von Frauen vor Stalking und Femiziden eine gesellschaftliche Aufgabe. Frauen würden geschützt, wenn ein Umdenken in der Gesellschaft stattfinde und geschlechtsbezogene Bilder und Rollenverständnisse sowie traditionelle Vorstellungen von Männlich- und Weiblichkeit abgebaut würden. Hier seien vor allem die Männer angesprochen. Sie stünden in der Verantwortung, dass sich etwas ändert, indem sie sich ändern und auch eingreifen, wenn andere Männer sich im Umgang mit Frauen kontrollierend und besitzergreifend verhalten.

Ein Anfang wäre gemacht, wenn Femizide einen eigenen Straftatbestand darstellten, denn damit würde der Zusammenhang von kontrollierendem Verhalten und tödlicher Aggression bei Männern mehr ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt.

Hilfe finden Betroffene unter anderem hier:

www.weisser-ring.de

www.zi-mannheim.de

www.bmjv.de

www.frauen-gegen-gewalt.de

www.hilfetelefon.de


UNTERNEHMEN DER REGION