Kinder aus „verbotenen Beziehungen“
Sandbostel (eb). Anfang des Jahres 2023 startete an der Gedenkstätte Lager Sandbostel ein Forschungsprojekt, das die Lebensgeschichten von Menschen in den Blick nimmt, die einen deutschen Elternteil hatten und einen, der während des Zweiten Weltkriegs als Kriegsgefangener oder Zwangsarbeiter:in in das Gebiet des Deutschen Reichs verschleppt wurde. Jan Dohrmann und Lucy Debus stellen am Mittwoch, 22. November, die Arbeit des Projektteams vor und präsentieren in Form eines Werkstattberichts erste Zwischenergebnisse, aktuelle Herausforderungen sowie die nächsten Schritte.
Fast fünf Millionen Kriegsgefangene
Während des Zweiten Weltkriegs wurden fast fünf Millionen kriegsgefangene Soldaten von der Wehrmacht in das Deutsche Reich gebracht. Sie sollten den kriegsbedingten Mangel an Arbeitskräften insbesondere in der Landwirtschaft ausgleichen. Zudem verschleppten deutsche Behörden mehr als 8 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten aus ganz Europa oder warben sie mit falschen Versprechungen an. Sie wurden als Zwangsarbeiter:innen durch die deutsche Wirtschaft ausgebeutet: Als Hausangestellte, in der Landwirtschaft, im Bauwesen, Logistik und auch in der Rüstungsindustrie.
Die nationalsozialistische Rassenideologie prägte das Verhältnis zwischen Deutschen und den ausländischen Arbeitskräften. Tausende Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter:innen wurden für tatsächliche oder angebliche Beziehungen zu Deutschen mit Gefängnis, Konzentrationslagerhaft oder sogar Hinrichtung bestraft. Auch Deutsche, Frauen häufiger als Männer, waren der Verfolgung durch Polizei und Gestapo ausgesetzt. Die Strafen reichten von öffentlichen Demütigungen bis hin zur Einweisung in ein KZ.
Trotz Verbote und der Gefahr einer Bestrafung entstanden Freundschaften, Liebesbeziehungen und sexuelle Kontakte – letzteres nicht immer einvernehmlich. Besonders viele Fälle sind aus Dörfern und ländlichen Umgebungen bekannt, wo die Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Nichtdeutschen enger und die Überwachung weniger streng war. Aus diesen Beziehungen sind auch Kinder hervorgegangen, wie viele, ist nie erforscht worden. Es waren tausende, möglicherweise zehntausende.
Kinder aus „verbotenen Beziehungen“
Dass Kinder aus „verbotenen Beziehungen“ in der historischen Forschung und der kollektiven Erinnerung fast gar nicht vorkommen, möchte die Gedenkstätte Lager Sandbostel nun ändern. Seit vielen Jahren pflegt sie schon enge Kontakte mit Nachkommen von Kriegsgefangenen, die Kinder mit deutschen Frauen Kinder gezeugt haben. Im Rahmen des Projekts „trotzdem da!“ konnte das Team um Gedenkstättenleiter Andreas Ehresmann viele weitere Personen ausfindig machen. Im Dezember 2024 wird in Sandbostel eine Wanderausstellung eröffnet, die ihre Lebensgeschichten erzählt.
Gleichzeitig möchte die Gedenkstätte Lager Sandbostel den Projektteilnehmenden die Möglichkeit geben, sich über ihre Geschichten auszutauschen. Die meisten von ihnen ihr ganzes Leben lang noch niemanden kennengelernt, der eine ähnliche Geschichte hat. Ende September fand ein erstes Projektforum statt. Aus ganz Deutschland, Österreich und den Niederlanden sind neun „Kinder aus verbotenen Beziehungen“ angereist.
Anton Model hat den langen Weg vom Bodensee nach Sandbostel auf sich genommen, um an dem Projektforum teilzunehmen. Er wurde 1943 als Sohn eines deutschen Mannes und einer sowjetischen Zwangsarbeiterin geboren. Das hat Anton Model aber erst als Jugendlicher erfahren, weil er bei einer Adoptivfamilie ausgewachsen ist. Seine Mutter, Warga Taran, war in das Deutsche Reich verschleppt worden und musste auf einem Bauernhof am Bodensee Zwangsarbeit leisten. Erst 1993 konnte Anton Model sie in der Ukraine ausfindig machen und besuchen.
Vortrag am 22. November
Die Geschichten von Anton Model und weiteren Projektteilnehmenden werden Lucy Debus und Jan Dohrmann unter dem Titel „trotzdem da! – Kinder aus verbotenen Beziehungen zwischen Deutschen und Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeiter*innen“ am Mittwoch, 22. November, um 18 Uhr in der Gedenkstätte Lager Sandbostel vorstellen.
Der Eintritt ist frei, Spenden sind erbeten.