Keine Feier ohne Gedenken - Beiträge zur offenen Gesellschaft Teil I
Auch in diesem Jahr findet bundesweit wieder der Tag der offenen Gesellschaft statt. Am 15. Juni werden Menschen aus unterschiedlichen Generationen, Milieus und Ländern an gedeckte Tische und Tafeln öffentlich zusammenkommen und „leben die offene Gesellschaft“, wie es auf der Internetseite der Initiative Offene Gesellschaft heißt. Die offene Gesellschaft auf diese Art zu leben bedeute, einzustehen für Freiheit, Offenheit, Vielfalt und (Gast-)Freundschaft.
Am 15. Juni werde die Demokratie gefeiert und sich zum Grundgesetz bekannt. Dieser Tag soll aber auch ein Zeichen dafür sein, dass eine Demokratie und eine offene Gesellschaft nur bestehen können, wenn sich deren Freund/innen aktiv für sie einsetzen und sie praktizieren. Die Gefahr für eine offene Gesellschaft gehe nämlich nicht nur von rechtspopulistischen Parteien und autoritären Strömungen aus. Ebenso gefährlich sei der Verzicht ihrer Befürworter/innen darauf, sie zu verteidigen und zu gestalten. In diesem Sinne müsse jeder Tag ein Tag der offenen Gesellschaft sein, an dem die Menschen Haltung gegen Rechtspopulismus zeigen und sich für Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit einsetzen und sich um das Gemeinwohl verdient machen. Rechtspopulist/innen sehen das jedoch anders. Ihrer Meinung nach seien nicht sie es, sondern solche Initiativen, die sich für Weltoffenheit, Vielfalt und die Anerkennung verschiedener Lebens- und Liebesweisen einsetzen, die das Gemeinwohl als auch das Recht auf freie Meinungsäußerung untergraben.
Steht also Aussage gegen Aussage?
Vertreten lediglich verschiedene Politakteure unterschiedliche, gleichberechtigte Meinungen? Mitnichten. Betrachtet man den rechtspopulistischen Standpunkt genauer, zeigt sich, dass der Vorwurf, Initiativen wie die der offenen Gesellschaft untergrüben die Meinungsfreiheit, selten ohne Antisemitismus auskommt. So findet man Netz auf der Seite „Die Freie Welt“ einen Artikel vom Institut für Strategische Studien Berlin (ISSB e.V.), der zu belegen versucht, warum die „offene Gesellschaft keine offene Gesellschaft“ sei, sondern „höchst autoritär und teilweise sogar totalitär.“ Die scheinbare Begründung lautet wie folgt: Karl Popper hat 1945 das Buch „Die offene Gesellschaft und seine Feinde“ geschrieben. Und es gab einen Schüler, der das Konzept der offenen Gesellschaft in die „Realität umsetzen“ wollte. Dazu baute er „riesige Netzwerke von Stiftungen und NGOs“ auf. Deren „zentraler Dreh- und Angelpunkt sind die Open Society Foundations“. Diese seien nicht nur weltweit verstreut, sondern haben „Einfluss auf die Regierungen der Welt“.Somit lege der überaus „gelehrige Schüler“ von Karl Popper der gesamten Gesellschaft das „Diktat der offenen Gesellschaft“ auf, wodurch Traditionen, „alle gesellschaftlichen Normen, Standards und Werte permanent“ überprüft und reformiert würden. Dadurch werde „alle Verbindlichkeit und Konsensfähigkeit einer Gesellschaft und jede Exklusivität einer Kultur … zerstört“.
Die offene Gesellschaft habe daher einen „zersetzenden Charakter“ und wer sie kritisiert werde „geächtet.“ Das sei totalitär.
Habe ich noch etwas vergessen?
Ja. Der „gelehrige Schüler“ Poppers, der mit seinen Netzwerken das Weltgeschehen bestimme, sei George Soros, selbstverständlich ein Jude mit viel Geld von der Wall Street. Es zeigt sich: Nicht nur ist es eine Lüge, dass die offene Gesellschaft keine Verbindlichkeit kennt. Sie bekennt sich zum Grundgesetz und demokratische Grundprinzipien bilden ihre unumstößliche Grundlage. Außerdem: Was ist schlimm daran, gesellschaftliche Normen zu überprüfen? Ohne deren ständige Revision dürften z. B. Frauen immer noch nicht wählen, dafür ihre Ehemänner sie aber straffrei vergewaltigen.
Schließlich wird offenkundig, dass sich die rechte Kritik an der offenen Gesellschaft antisemitischer Stereotype bedient und der Vorwurf, sie sei totalitär, eine Projektion ist: Die offene Gesellschaft sei „totalitär“, weil sie das Projekt eines Finanzjuden sei, der im Hintergrund Regierungen beeinflusse, um Gesellschaften zu zersetzen und der jene vermeintlich unschuldigen Kritiker, die das beanstanden, verfolge. Diese in der Tat totalitäre Vorstellung, Juden betrieben eine Weltverschwörung und zersetzten Gesellschaften, allen voran die deutsche, war einst der Motor, mit der in Deutschland zur Judenvernichtung mobilisiert wurde.
Schlussendlich zeigt sich, an welcher Tradition der Autor von „Freie Welt“ festhält. An einer, wonach eine Welt nur dann offen und frei ist, wenn sie frei von Juden und offen für Antisemiten ist.
Am 15. Juni ist der Tag der offenen Gesellschaft. Ein Tag, an dem Menschen zusammenkommen und die deutsche Demokratie feiern. An diesem Tag sollten die Feiernden aber auch der jüdischen Opfer gedenken, die ihr unmittelbar vorausgingen. Eine Gesellschaft ist nur dann offen, wenn Antisemitismus keinen Platz in ihr hat.