

Eröffnet am Montag, beendet am Mittwoch – in der Gedenkstätte Lager Sandbostel kam es bei der Eröffnung der Ausstellung „Niemand ist vergessen und nichts ist vergessen. Die Blockade Leningrads 1941–1944“ zum Eklat. Manche Behauptungen in der Eröffnungsrede des Vorsitzenden vom Verein „Deutsch-Russische Friedenstage e.V. Bremen“, der die Ausstellung verleiht, trafen auf völliges Unverständnis seitens der Gedenkstättenleitung. Es taten sich unvereinbare und unvermittelbare Positionen auch in der anschließenden Diskussion zwischen dem Verein und der Gedenkstätte auf, was letztere zu dem drastischen Schritt bewog, die Präsentation kurzerhand abzubrechen. Man habe lange diskutiert, sei aber zu keiner gemeinsamen Linie gekommen. „Schweren Herzens haben wir beschlossen, die Präsentation in Sandbostel zu beenden“, so Gedenkstättenleiter Andreas Ehresmann
Rechtfertigung des Krieges
Ehresmann erklärte, dass Aussagen des Vereinsvorsitzenden Wolfgang Müller „in keiner Weise mit den Positionen der Gedenkstätte und der Stiftung Lager Sandbostel übereinstimmen“. Konkret seien Analogien zum aktuellen Angriffskrieg gegen die Ukraine gezogen worden, die historisch falsch seien.
Laut Redemanuskript, das der Redaktion vorliegt, sagte Müller zum Beispiel: „Das unermessliche Leid, das deutsche Soldaten und Panzer über die Völker der Sowjetunion gebracht haben, hat sich tief in deren Seelen, in ihr nationales Bewußtsein eingebrannt. Ihre Angst vor erneuten Bedrohungen aus dem Westen – also vor NATO-Soldaten und NATO-Raketen direkt an ihrer Grenze, also vor einer NATO-Osterweiterung - sollte daher verständlich sein.“
Müller kolportiert hiermit nicht nur die russische Propaganda und rechtfertigt den Angriff auf die Ukraine als nachvollziehbare Sicherheitsmaßnahme. Er zeigt sich auch gleichgültig gegenüber den imperialen Ambitionen Russlands, für welche nicht die NATO-Osterweiterung, sondern die Großmachtideologien von Aleksandr Dugin, Yevgeny Primakov und Putin selbst die Grundlage abgeben. Sie verfolgen den Anspruch, Russland solle eine Führungsmacht in der Welt spielen. Dazu müsse es politischen und kulturellen Einfluss auf die ehemaligen Sowjetrepubliken ausüben.
Darüber hinaus hakt Müllers Herleitung auch an anderer Stelle: Das nationalsozialistische Deutschland war keine Bedrohung aus dem politischen Westen, sondern begriff sich selbst als Feind des politischen, das heißt liberalen, rechtsstaatlichen Westens, mit dem die Sowjetunion den NS doch letztlich sogar zu Fall brachte.
Ehresmann betont entsprechend: „Wir dachten eine Ausstellung zur Leningrad-Blockade zu zeigen, nicht einen Krieg zu rechtfertigen.“
Der Abbruch der Ausstellung sei aus Sicht der Gedenkstätte der deutlichste Weg, sich von den Positionen des Vereins „Deutsch-Russische Friedenstage e.V.“ zu distanzieren. Zeitnah plane man stattdessen eine Veranstaltung, die sich mit der Instrumentalisierung von Erinnerung in Russland befasst, unter anderem des Gedenkens an die Hungerblockade Leningrads.
Möglichkeiten der Instrumentalisierung
Gedenken lässt sich instrumentalisieren, wenn man vom konkreten geschichtlichen Geschehen soweit abstrahiert, dass die qualitativen, es definierenden Merkmale verschwinden. So konnte zum Beispiel der Holocaust in der postkolonialen Theorie zur austauschbaren Chiffre für schlimme Verbrechen werden, wie der Historiker Jan Gerber u.a. in seinem neuen Buch „Das Verschwinden des Holocausts“ zeigt.
Auf Grundlage dieser Entqualifizierung der Geschichte kann dann auch allerhand Falsches behauptet werden. Wer z.B. Antisemitismus als allgemeine Herabwürdigung von Menschen begreift, während der Antisemitismus Juden nicht nur zu Untermenschen, sondern zu gleich zu Übermenschen erklärt, als welche sie restlos auszurotten sind, der kritisiert dann, wie Müller in seiner Rede, die Differenzierung zwischen den vernichteten Juden und den Opfern des Vernichtungsfeldzuges im Osten. So sagte er in seiner Rede - gerichtet gegen die Bundesregierung, die Leningradern nicht die gleichen Entschädigungszahlungen wie Juden leistet -, dass es „historisch definitiv falsch“ sei, zu glauben, dass die „jüdischen Bewohner ja das eigentliche Ziel der Vernichtungsaktion“ gewesen seien und die russischen bzw. slawischen nur als „normale Kollateralopfer des Krieges“ einkalkuliert wurden.
Dabei ist die Forschung hier recht klar: Der Vernichtungsfeldzug galt der kommunistischen Sowjetunion, für dessen Sieg man die Tötung und Versklavung von Millionen als Notwendigkeit einplante. Aber der nationalsozialistische Antislawismus verfolgte nicht das Ziel, jeden einzelnen Slawen als die Inkarnation des Bösen zu vernichten.
Reaktion des Vereins
Wolfgang Müller meldete sich am Mittwochnachmittag zu Wort und übersandte der Redaktion das Skript seiner Rede. Er betont, dass es ihm um „ein Erinnern, Gedenken und Mahnen“. In diesem Sinne schlug er vor, zwischen der Ausstellung und seiner Rede zu unterscheiden. So habe der Verein kein Problem, als offizieller Veranstalter zurückzutreten, so Müller. Die Ausstellung sei neutral und stelle nur historische Fakten dar, sei nicht vom Verein konzipiert. Seinen Redebeitrag, der Aspekte angesprochen habe, „die sonst eher nicht so zur Sprache kommen“ bitte er, „als ein Gesprächsangebot zu verstehen.“ In „kriegerischen Zeiten“ sei es schwer, „pazifistische Position hochzuhalten.“ Gegen die Unterstellung, er habe Krieg unterstützt, verwahrte er sich strikt: „Wir lehnen als Teil der Friedensbewegung jeden Krieg ab – auch Aufrüstung und militärische Provokationen.“
Fraglich wird diese Selbstpositionierung vor dem folgenden Passus seiner Rede: „Man kann junge Menschen letztlich nur dadurch zum Töten anderer Menschen motivieren, wenn man ihnen die Gewissheit vermittelt, diese anderen Menschen seien ja Feinde, sie seien böse, und ihr Anführer sei ein Schurke. Und seien wir ehrlich: nichts anderes passiert gerade auch heutzutage - wenn es gegen Israel, oder die Hamas, oder auch gegen Russland geht.“ - Aber offensichtlich nicht, wenn es gegen die Ukraine geht.
Stiller Protest
Dass es so kommen könnte, wie es kam, dachte sich Kreistagspolitiker Reinhard Lindenberg (WFB), und wohnte der Veranstaltung gekleidet in den Farben der Ukraine bei. „Ich bin regelmäßiger Besucher der dortigen Ausstellungen und Vorträge. Ich hatte mich vorab informiert. Dabei hatte ich den Eindruck, dass der Verein `Deutsch-Russische Friedenstage e.V. Bremen´ das aktuelle Verhalten der russischen Regierung kritiklos schönredet.“ Er habe dagegen halten wollen, „ohne Worte zu gebrauchen. Mehr als ein stummer Protest wäre im Rahmen dieser Veranstaltung nicht angemessen gewesen.“
Am Ende bleibt die Frage, warum die Gedenkstätte nicht das gleiche ahnte wie Lindenberg?