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Feindbild Staat

Der brutale Angriff auf den SPD-Politiker Matthias Ecke hat eine neue Debatte über politische Gewalt in Gang gesetzt. Auch unter Politikern vor Ort.

Der Gewalt trotzen: Politiker vor Ort lassen sich 
nicht einschüchtern

Der Gewalt trotzen: Politiker vor Ort lassen sich nicht einschüchtern

Bild: Joerg Monsees

Landkreis. Die Meldung aus Dresden erschütterte vor zwei Wochen Politiker:innen aller Parteien: Beim Aufhängen von Wahlplakaten wurde der Europa-Kandidat der SPD, Matthias Ecke, völlig unvermittelt von mehreren jungen Männern zusammengeschlagen und so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus sofort operiert werden musste. Schnell entbrach eine (weitere) Debatte über Verrohung, steigende Gewaltbereitschaft und Angriffe auf die Demokratie.

 

AfD am häufigsten von Gewalt betroffen

 

Mit dem Phänomen von Angriffen auf politisch Engagierte beschäftigte sich bisher die Partei, die vielfach für die jüngsten Attacken mit verantwortlich gemacht wird, besonders häufig: Die AfD. Deren Bundestagsfraktion stellt seit Jahren regelmäßig Anfragen an die Bundesregierung, um die Zahl der polizeilich erfassten Fälle zu erfahren. Aus der jüngsten Antwort geht hervor, dass aktuell die Grünen am häufigsten strafrechtlich relevanten Gegenwind erfahren. Die Angriffe umfassen in diesem Fall alles von verbalen Attacken über Sachbeschädigung bis hin zu körperlicher Gewalt. Von körperlichen Angriffen - die natürlich ebenfalls unterschiedliche Qualitäten haben können - ist die AfD seit 2019 bis heute insgesamt am häufigsten betroffen, 2022 standen die Grünen zwischenzeitlich an der Spitze.

Die Statistik steht allerdings auch in der Kritik. Die Zahl der erfassten Fälle hängt letztlich davon ab, wie viele Anzeigen bei der Polizei gestellt werden, über die Dunkelziffer kann nur spekuliert werden. Im Falle der Gewaltdelikte gibt es auch einige Kuriositäten, wie der Journalist Lars Wienand berichtet: So würden etwa Vorkommnisse, bei denen Gegendemonstranten bei AfD-Veranstaltungen mit der Polizei aneinandergerieten, als Gewaltdelikte gegen Mitglieder der AfD erfasst. Aufgeführt wird etwa ein Fall, in dem ein Polizist sich beim Versuch, einen Gegendemonstranten wegzuschieben, an der Schulter verletzte. Ähnliche Fälle bei den Grünen erwartet Wienand in der nächsten Statistik im Zusammenhang mit den Bauern-Protesten.

 

„Erinnert an die dunkelsten Stunden“

 

Die Nachricht über den Angriff auf Ecke (und weitere Wahlkampfhelfer und Politiker) sorgte auch bei Partei-Vertreter:innen vor Ort für Entsetzen: „Der Angriff auf Matthias ist schockierend. Wir alle hängen gerade Plakate auf und werben so friedlich für ein demokratisches und offenes Europa“, sagt Kristin Lindemann (SPD Osterholz-Scharmbeck). Sie sei aus ihrem Umfeld schon oft gefragt worden, ob sie sich weiterhin so aktiv politisch engagieren wolle.„Natürlich denkt man über den Vorfall intensiv nach, wenn man selbst auch vor Ort im Europawahlkampf aktiv ist und stellt sich dann die Frage, ob so etwas hier bei uns auch passieren könnte“, stimmt Marie Jordan, Vorsitzende der CDU in Osterholz-Scharmbeck, zu.

Alle Parteien verurteilen den brutalen Überfall: „Dass politische Auseinandersetzungen mit Gewalt ausgetragen werden, erinnert an die dunkelsten Stunden unseres Landes“, sind sich Dirk Frederik-Stelling (CDU Bremervörde), Doris Brandt (SPD Bremervörde) und Jana Basilon (Grüne Bremervörde) einig. „Gewalt gegen Politiker ist inakzeptabel und stellt eine ernsthafte Bedrohung für unsere demokratischen Werte dar“, findet auch Felix Freigang, der für die AfD in Osterholz im Kreistag sitzt.

 

„Kein Einzelfall“

 

Überrascht hat das Verbrechen die Kommunalpolitiker allerdings nicht unbedingt. „In diesem Zusammenhang dürfen wir nicht vergessen, dass Rechtsextremisten in Deutschland - der NSU - bereits Menschen ermordet haben“, sagt Herbert Behrens von der Osterholzer Linken. Auch Brigitte Neuner-Krämer (Grüne Osterholz-Scharmbeck) sieht in dem Vorfall die Fortsetzungs einer bedrückenden Entwicklung: „Es handelt sich um keinen Einzelfall, sondern um einen besonders gewalttätigen Angriff in einer immer größer werdenden Kette von persönlichen Angriffen, Beleidigungen, Hassbotschaften und Bedrohungen im Netz.“

Nicht enden wollende Krisen und soziale Medien als Brandbeschleuniger - die meisten Politiker:innen vor Ort haben eine klare Vorstellung davon, aus welchen Gründen die Gewaltbereitschaft steigt. „Leider sind dies Ergebnisse einer Verrohung, die wir bereits seit vielen Jahren online wahrnehmen“, sagen CDU, SPD und Grüne aus Bremervörde. In den sozialen Medien sei es sehr einfach, ein Feindbild - zum Beispiel „die Politik“ - zu finden und sich zu radikalisieren. „Dort gibt es dann keine Graubereiche mehr, sondern nur noch: Entweder bist du für uns oder gegen uns“, beobachtet der FDP-Vorsitzende Sven Anacker aus Bremervörde.

Eine solche Freund-Feind Logik, die letztlich in Gewalt münden kann, werde laut Neuner-Krämer und Lindemann vom Populismus befeuert: „In einer verunsicherten Gesellschaft, in der Krieg in Europa, globale Klimakrise, schwache Wirtschaft zu Hause und Angst vor dem eigenen Abstieg die öffentliche Debatte bestimmen, steigt das Bedürfnis nach einfachen Lösungen. Das ist die Stunde der Populisten und derer, die unsere freiheitliche Gesellschaft bekämpfen und an der Auflösung unserer Demokratie arbeiten“, sagt Brigitte Neuner-Krämer. Kristin Lindemann stimmt zu: „Diese Situation wird gezielt ausgenutzt, um mit plakativen Parolen einfache Antworten zu suggerieren. Parolen, die demokratiefeindlich sind, den Staat in Frage stellen und Gewalt verherrlichen. Ich bin mir sicher, dies senkt die Hemmschwelle für Gewalt.“

 

„Akzeptanz unseres Rechtsstaates nimmt ab“

 

Herbert Behrens sieht ein grundlegendes Problem in der wachsenden Ungleichheit der Bevölkerung: „Die Gesellschaft in Deutschland ist tief gespalten. Die Zahl der Menschen, die von Armut bedroht sind, wächst ebenso wie der Reichtum einiger weniger. Auch das ist eine Form von Gewalterfahrung“, so der Linken-Politiker. „Es gibt viele Studien über den Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gewalt. Da steht einiges drin, was für eine gerechtere Gesellschaft wichtig ist.“

Sind die jüngsten Gewaltausbrüche gezielt gegen den Staat gerichtet oder handelt es sich eher um Frustabbau mit beliebigem Ziel? Darüber sind sich die Parteimitglieder vor Ort nicht einig. „Die Attacken auf Politiker sind unserer Ansicht nach sowohl gezielte Angriffe auf die Demokratie als auch Ausdruck von allgemeiner Gewaltbereitschaft“, sagt AfD-Mann Felix Freigang. „Ich sehe eine ähnliche Motivation bei den Angriffen auf Rettungskräfte, Feuerwehr und Polizei wie bei den Attacken auf Politiker. Die Akzeptanz unseres Rechtsstaates und seiner Organisationen nimmt spürbar ab“, erklärt Marie Jordan. Polizei und Rettungskräfte würden ebenfalls als Vertreter des Staates wahrgenommen und deshalb angegriffen.

 

„Wenn du Pech hast, bekommst du den Frust zu spüren“

 

Die Mehrheit der Engagierten in unserer Region berichtet, dass der Ton ihnen gegenüber rauer wird. Konkrete Angriffe im Zusammenhang mit ihrer politischen Arbeit haben bisher die wenigsten erlebt. Kristin Lindemann und die SPD in Osterholz-Scharmbeck wurden schon mehrfach zur Zielscheibe. „Während des letzten Kommunalwahlkampfes ist mein Bild auf Facebook in rechten Netzwerken geteilt worden. Die Beleidigungen dort waren unterirdisch und zahlreich. Keine einzige Person kannte ich. Und darum geht es. Ich habe das Gefühl, die Anfeindungen sind unpersönlich. Es spielt keine Rolle, wie engagiert du bist und welchen Hintergrund du hast. Es ist egal, was du getan hast und wo du überhaupt mitentscheiden kannst. Der Frust ist da und wenn du Pech hast, bekommst du ihn zu spüren.“ Für sie und ihre Parteigenossen sei es leider „keine Besonderheit, grundlos belästigt, beschimpft oder bedroht zu werden.“ Auch im Europawahlkampf sei das schon vorgekommen.

Um ein neues Phänomen handelt es sich dabei nicht. Wilfried Pallasch (Bürgerfraktion OHZ) erinnert sich an einen Vorfall, der mehr als 30 Jahre zurückliegt. „Bei mir wurde ein Beutel mit Lackfarbe gegen die Haustür geworfen. Offensichtlich war der Plan, mich aus einer laufenden Sitzung heraus zu holen“ - um das Abstimmungsergebnis zu beeinflussen. Pallasch ließ sich davon nicht beeindrucken und blieb in der Sitzung. Auch heute gelte es wieder, sich nicht einschüchtern zu lassen und standhaft zu bleiben, sind sich die Politiker:innen der Region einig - und wünschen sich dafür Rückhalt aus der Bevölkerung.


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