Der Nahe Osten in Aufruhr
Bremervörde. Dr. Peter Lintl, Wissenschaftler an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, referierte am 6. Dezember im EWE-Kundenzentrum auf Einladung der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP) zum hoch aktuellen Thema des Israel-Kriegs.
Werner Hinrichs, Leiter der Bremervörder GSP-Sektion, begrüßte den Nahost-Experten Dr. Peter Lintl, der an den Universitäten von Erlangen und Haifa studierte, einen zweijährigen Forschungsaufenthalt an der Universität in Tel Aviv absolvierte und derzeit in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der SWP tätig ist.
Hinrichs führte kurz in das Thema ein und gab Dr. Lintl gleich einige interessante Fragen zur aktuellen Situation mit auf den Weg. Dieser nahm den Faden auf und führte die Zuhörer:innen auf einen historischen Exkurs, der momentan in der aktuellen Berichterstattung wenig Platz findet und leitete dann über zu der spannenden Frage: wie könnte es weitergehen in einer aufgewühlten Region, in der das gegenseitige Vertrauen verlorengegangen ist und die Terrororganisationen Hamas und Hisbollah massive Unterstützung durch arabische Anrainerstaaten erfahren.
Dr. Lintl richtete zunächst den Blick auf die drei hauptsächlichen Brennpunkte: den Gaza-Streifen, das Westjordangebiet und die nördliche Grenzregion zum Libanon. Gaza, mit einer Flächenausdehnung von 360 km² und ca. zwei Millionen palästinensischen Bewohnern, ist flächenmäßig etwas größer als Bremen, jedoch mit vierfacher Besiedlungsdichte. Das Westjordanland umfasst 5800 km² und wird von etwa drei Millionen Menschen besiedelt (2,5 Millionen Palästinenser und 430.000 Juden). Die jüdische Bevölkerung lebt hier in schätzungsweise 213 Siedlungen mit 132 Außenposten. Ein dauerhaftes Krisenthema unter dem Begriff: israelische Siedlungspolitik.
Die Geschichte
Dr. Lintl machte deutlich, dass ein wesentliches Element mit geopolitischer Auswirkung bis auf den heutigen Tag sicherlich der 6-Tagekrieg von 1967 war. Israel erlangte in dessen Verlauf die Kontrolle über den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel, die Golanhöhen, das Westjordanland und Ostjerusalem. Über die Jahre änderte sich in Teilen die Blickweise arabischer Regierungen in Bezug auf Frieden mit Israel. Eine Annäherung war erkennbar, als 1979 die Rückgabe der Sinai-Halbinsel im Rahmen der israelisch-ägyptischen Friedensfindung an Ägypten erfolgte. Im Verlauf des Oslo-Friedensprozesses (1993-1995), wurden 40 Prozent des Westjordanlandes mit über 90 Prozent der Bevölkerung der Palästinensischen Autonomiebehörde zur Selbstverwaltung überlassen. Damit sollte der Rahmen für eine Zwei-Staaten-Lösung gelegt werden. Geprägt wurde diese Zeit durch den PLO-Führer Arafat, den israelischen Ministerpräsidenten Rabin sowie dem US-Präsidenten Clinton. Die in Oslo getroffenen Vereinbarungen kamen jedoch nicht zur Umsetzung. Kurz nach der Vertragsunterzeichnung ermordete ein israelischer Rechtsextremist Jitzchak Rabin. Mit der erstmaligen Wahl von Netanjahu zum Premierminister im Jahr 1996, verhärteten sich die Fronten erheblich und der Friedensprozess kam zum Erliegen.
2005 zog Israel mit dem einseitigen Abkoppelungsplan aus ganz Gaza ab. Es folgten Wahlen, die die Zerstrittenheit der Palästinenser untereinander deutlich machte. Mahmud Abbas, der Nachfolger von Arafat, führt bis heute die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland. Die Hamas gewann 2007 die Wahlen in Gaza und setzte ihre eigene Richtung durch, ohne internationale Anerkennung. Die Spaltung wurde offenkundig und der Gaza-Streifen ist seit der Machtübernahme der Hamas durch eine verschärfte ägyptische und israelische Blockade isoliert. Auch daran ist erkennbar, dass eine einheitliche Haltung der arabischen Staaten gegenüber der Hamas nicht gegeben ist. Gleiches gilt für die Hisbollah im Libanon.
Bis zum 7. Oktober dieses Jahres folgten vier weitere kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas. Nun der wohl brutalste seit dem Jom-Kippur-Krieg vor 50 Jahren, deren massive Reaktion der Israelis die Menschen in aller Welt beschäftigen und sie gleichermaßen in zwei Lager spaltet. Fast 1,9 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Die Lage im Westjordanland bleibt weiter hoch angespannt und der politische Druck auf Israel wächst.
Die Ziele der Hamas
Auf der Suche nach Antworten fasste Dr. Lintl seine Ausführungen mit einigen markanten Feststellungen für beide Kriegsparteien zusammen:
Die Hamas will die Führungsrolle innerhalb der palästinensischen Gesellschaft übernehmen und die Integration Israels in die Region verhindern. Sie strebt eine Annäherung an den Iran an, sucht den Krieg an allen Fronten, insbesondere mit Unterstützung der Hisbollah aus dem Libanon. Gleichzeitig soll der vor kurzem erzielte sog. Saudi-Deal unterbunden und Israel langfristig vernichtet werden.
Israels Ziele
Israel hat seine Ziele klar artikuliert. Die Organisations- und Infrastruktur, einschl. der Hamas-Kämpfer soll ausgeschaltet werden. Die neue Sicherheitsarchitektur in Gaza ist ohne Verantwortung Israels aufzubauen.
Eine Lösung dieser weit auseinanderliegenden Positionen für eine Nachkriegsordnung scheint nur schwer vorstellbar – schon gar nicht kurzfristig. Was geschieht mit dem Gazastreifen, wenn die Terrororganisation Hamas vernichtet ist? Und wie, so Dr. Lintl, sortiert sich die deutsche Politik zwischen Israelsolidarität und universalen Werten ein? Wie kann, wie soll man über den Konflikt reden? Was macht der Konflikt mit Deutschland? Wie gehen wir mit dem wiedererstarkten Antisemitismus und der gesellschaftlichen Polarisierung um? Eine angeregte Diskussion schloss diesen hochinteressanten, sicherheitspolitischen Vortragsabend ab.
Der Referent erklärte sich im Anschluss bereit, am folgenden Tag zur gleichen Thematik vor Schüler:innen der Berufsbildende Schule vorzutragen.
Dem interessanten Vortrag von Dr. Lintl zum Thema „Aktuelle Lage in Israel/Palästina Historische Hintergründe des Nahost Konflikts“ hörten aufmerksam ca. 130 Schüler:innen der BBS in Bremervörde zu.