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Benjamin Moldenhauer

"Baby Reindeer": Eine Überlebensstrategie

Die Netflix Serie „Baby Reindeer“ verhandelt Missbrauch auf eine filmisch faszinierende und inhaltlich die richtigen Fragen zum Thema aufwerfende Weise.

Richard Gadd spielt eine Donny, eine fiktionalisierte Version seiner selbst, die Missbrauch erlebt hat.

Richard Gadd spielt eine Donny, eine fiktionalisierte Version seiner selbst, die Missbrauch erlebt hat.

Bild: ED MILLER/NETFLIX//Netflix

Viel ist schon geschrieben worden über „Baby Reindeer“, eine der erfolgreichsten Netflix-Produktionen seit Jahren. Ein Hype mit Fug und Recht. Autor und Hauptdarsteller Richard Gadd hat basierend auf seinem eigenen gleichnamigen Theaterstück eine siebenteilige Serie konzipiert, und ihm ist etwas sehr Unwahrscheinliches gelungen: Baby Reindeer gelingt ein Blick auf Übergriff und Missbrauch, der selbst nichts Übergriffiges hat, sondern eine Selbstanalyse mit filmischen Mitteln darstellt. Richard Gadd spielt die eigene Vergewaltigung vor der Kamera nach, und das ist nicht der einzige Punkt, an dem die Grenze des im Rahmen des geläufigen Serienwesens Konsumierbaren mindestens mal touchiert wird.

 

Empathie und Faszination

 

„Baby Reindeer“ ist eine vielschichtig aufgebaute Erzählung, es geht um Selbstwert, Sexualität, Gewalt, Queerness, Comedy; also eigentlich um alles. Aufgefädelt an einer Geschichte um einen Stalking- und um einen Missbrauchsfall. Richard Gadd spielt Donny Dunn, eine fiktionalisierte Version von sich selbst. Donny ist ein erfolgloser Comedian, wohnt bei der Mutter seiner Ex-Freundin und hat sein Leben bis auf Weiteres an die Wand gefahren. Sein Geld verdient er hinter dem Tresen eines Londoner Pubs. Dort rauscht eines Nachmittags Martha (Jessica Gunning) durch die Tür, weinend. Donny hat Mitleid und gibt ihr einen aus. Zwei Menschen, denen es nicht gut geht, scheinen sich auf den ersten Blick gut zu verstehen. Sie verliebt sich und kippt umgehend ins Manische, er ist auf eine von ihm nicht genau definierbare Weise fasziniert, in einer Mischung aus Empathie und Faszination.

Martha lässt von da an nicht mehr ab und beginnt, Donny auf allen Kanälen mit Nachrichten zu bombardieren. Es ist ein über Jahre währender Albtraum, dem nach einem Drittel Serienlaufzeit eine weitere Gewaltebene hinzugefügt wird. Donny trifft einen Produzenten, Darrien (Tom Goodman-Hill), der ihn in eine erfolgversprechende Arbeitsbeziehung plus Drogenexzess hinein manipuliert. Darrien vergewaltigt Donny, nachdem der im Rausch weggedämmert ist, an mehreren Abenden.

 

Öffnung der Wahrnehmungskanäle

 

Die Inszenierung ist relativ konventionell, aber die Wechsel in der Tonalität sind immer wieder überraschend: vom Drama ins RomCom-Register in die Comedy und zurück. Diese Wechsel halten einen konstant in Spannung, und diese Spannung bildet die Voraussetzung für alles Weitere: Die Genrewechsel öffnen die Wahrnehmungskanäle. Und in letztere halten dann unangenehme Fragen Einzug: Warum tut hier einer nicht alles, damit das aufhört, warum sucht und hält ein Mensch weiter Kontakt zu einem Menschen, der ihn krank macht? Beziehungsweise warum geht er nicht gegen seine Stalkerin vor? Donny erkennt, was er von ihm wie auch von ihr bekommen hat (ohne es wirklich zu bekommen natürlich): ein Versprechen auf Erfolg und ein Ende des Gefühls der Wertlosigkeit zum einen, die Möglichkeit, im Blick des anderen zu glänzen, zum anderen. Für jemanden, der wie Donny unter quälenden Mangel an Selbstbewusstsein leidet, genügt das schon, um die Gewalt, die ihm angetan wird, vor sich selbst zu verleugnen; eine Überlebensstrategie.

 

Autofiktionales True Crime

 

Die eigentümliche Faszination, die überdurchschnittlich narzisstische Menschen ausüben können, speist sich auch in „Baby Reindeer“ aus ihrer Fähigkeit, anderen zu suggerieren, sie könnten am narzisstischen (und gleichfalls fragilen) Größenselbst teilhaben. Und Darrien ist einer der unheimlichsten Filmnarzissten der letzten Jahrzehnte, eben weil man die Manipulation hier so gut nachvollziehen kann: Das Versprechen auf das gute, wilde, erfolgreiche Leben, das eine schreiende emotionale Leere verdeckt. Und die Gewalt ist entsprechend gerade das, was verleugnet werden muss, um es weiterhin zu bekommen.

Man hat es bei „Baby Reindeer“ mit etwas Singulären zu tun, nämlich mit autofiktionalen True Crime. Und das vielen als geschmackloser Trash geltende True-Crime-Genre kann da, wo der Sensationalismus andere, zartere Bedeutungsebenen nicht plattwalzt, in den Extremen zeigen, was die Normalität ausmacht und bestimmt. „Baby Reindeer“ erzählt von einer Erfahrung, deren Veranschaulichung auch ohne die Erfahrung von Vergewaltigung und Missbrauch bedeutsam und sehr klärend sein kann. Das Extrem ist der körperliche Missbrauch, der Normalfall ist die toxische Beziehung, die nicht mehr als Übergriff erkannte Herabsetzung und Grenzverletzung. Die Frage ist, warum man nicht geht, obwohl es einen krank macht.

Richard Gadd holt alles das aus sich heraus und vor die Kamera und erzählt von Ambivalenzen und Autodestruktivität, ohne den Gewaltcharakter der Tat abzuschwächen. Ich kenne nur wenig Bildschirmkunst der letzten Jahre, die einen dermaßen niederdrückt und zugleich mittels diagnostischer Intelligenz, radikaler Offenheit und gut getimter Komik wacher und wachsamer gegenüber sich selbst und anderen werden lässt.


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