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Patrick Viol

Die gute Form - Zur Ausstellung „Bilder und Wandobjekte“ von Gisela Rettig-Nicola

Worpswede. In sieben Werkgruppen zeigt Gisela Rettig-Nicola seit dem 11. August einen Querschnitt ihrer gegenstandsfreien bzw. konkreten Kunst aus den vergangenen 25 Jahren in sieben verschiedenen Räumen der Galerie Altes Rathaus in Worpswede. Ihr Werk ist durchzogen von der Auseinandersetzung mit geometrischen Formen in formalisierten Strukturen. Durch ihre Ausstellung halt ein kritisches Echo auf die Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft.
 

Im Eingangsbereich der Galerie Altes Rathaus, im ersten Raum, fällt der Blick direkt auf eine Malerei. Ein frühes Werk. Man sieht eine rechteckige, aber bröckelnde Form in Weiß- und Ockertönen. Wirkt wie ein in eine rechteckige Form gebrachter alter, schwerer Stein. An den weggebrochenen Stellen kommen dunkle Streben zum Vorschein. Sie lassen einen rechtwinkligen Eisenrahmen vermuten, der den geformten Stein im Inneren zusammenhielt oder unter deren Spannung der Stein zerbrach. Diese Malerei ist das einzige Werk der Ausstellung, das einen direkten Bezug auf ein äußeres Objekt herstellt. Unterlässt man aber den zwanghaften Versuch, das Angeschaute mit Bekanntem zu identifizieren, spricht sich im Bild ein Zusammenhang von Form und Beschädigung des von ihr Gefassten aus. Diese Beschäftigung mit dem Verhältnis von Formgebung, Formalisierung, Struktur auf der einen Seite und dem davon Erfassten auf der anderen durchzieht die meisten Werke der Ausstellung.
Die späteren Arbeiten haben sich von der Malerei verabschiedet. Es gibt keine Leinwand mehr, nur noch Pappe, Folien, Gaze. Holz, Papier, Splitt, Sand und Erde. Obgleich alle Grundfarben in ihren Arbeiten auftauchen, treten sie in den meisten nur spärlich auf. Im Vordergrund liegt meist eine einfarbige aufliegende formalisierte Struktur, welche Farben nur als Formen wie Dreiecke, Rechtecke oder Linien nach einem festgelegten Schema auftauchen lässt, wenn überhaupt. Den jeweiligen Gestaltungen der Arbeiten liegt ein strenges, gesetzmäßiges Ordnungssystem zugrunde. Anordnungen der farbigen Formen sind formalisiert, ihre Abstände abgemessen. Intuitiver Zufall ist aus der Anordnung ausgeschlossen. Die Arbeiten gehen in den Raum, sind dreidimensional und: Sie abstrahieren nicht von etwas. Sie sind konkret: Sie sind das, was man sieht.
Doch ihre Mehrschichtigkeit verlangt, mehr zu begreifen als das, was man bloß sieht. Die Farben treten durch umgefaltete Ecken oder Schlitze sowie durch kleine Fenster auf- es sind aufgeklappte Dreiecke oder Quadrate. So zeigen sich die farbigen Formen als farbige Teile von Flächen hinter dunklen oder hellen Flächen. Flächen verdecken folglich andere Flächen.
So ist die Frage, um mehr zu begreifen als das, was man sieht, aber nicht, was steckt dahinter. Diese Frage ist schließlich bereits beantwortet: Dahinter ist eine andere Fläche. Die Frage, die sich an Rettig-Nicolas Arbeiten aufgrund des sie gestaltenden Formalismus formuliert und über das Gesehene hinausführt, ist: Was ist das formgebende Gesetz der Erscheinung? Diese Frage ist in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung: in ihrer Bedeutung für Gesellschaftskritik, an der Kunst ihre Substanz hat, kaum zu überschätzen. Die Frage zielt in der Absicht, gesellschaftliche Probleme zu verstehen, auf das Verständnis der gesellschaftlichen Strukturen und das sie bestimmende Gesetz. Anders die Frage nach einem Dahinter. Die will immer nur böse Mächte finden: Juden, Amerikaner, Illuminaten oder Flüchtlinge.
In den Arbeiten, insbesondere in den Arbeiten Schnittweise 1 (1-3) drückt sich aber noch mehr aus als die formulierte Frage. Schnittweise 1 (1-3) sind zwei helle Rechtecke und ein dunkles Quadrat. Im Quadrat und in einem der Rechtecke sind kleine Dreiecksfenster geöffnet, die den Farben - im Quadrat Geld und Orange, im Rechteck Blau, Gelb und Orange - ihre Sichtbarkeit gewähren. Im übrigen Rechteck sind die Dreiecksfenster nach Innen eingeschnitten. Man sieht durch die Öffnungen nur dunkle Schatten. Alle Dreiecke haben von ihrem Mittelpunkt aus denselben Abstand, sind aber um den Mittelpunkt verschiedentlich gedreht. Die Oberflächen, sowohl die dunkle als auch die beiden hellen, sind farblich nicht dicht. Unterschiedliche Farbintensität lässt den Untergrund, den Karton, durchschimmern, oder das leicht eingeritzte Raster für die Anordnung der Dreiecksmittelpunkte. Hierdurch ergibt sich zum Einen ein unwillkürliches Muster der strukturgebenden Fläche, wodurch sich ein Gegensatz zu ihrer strengen Ordnung ergibt. Gleichzeitig wird sie transparent. Die Struktur verdeckt weder das Material, auf das sie gelegt ist, noch das Ordnungsprinzip.
Es lässt sich an diesen Arbeiten eine veränderte und wichtige Haltung gegenüber dem Verhältnis von Form und Inhalt bzw. dem von ihr Erfassten ablesen. Zeigt sich in der frühen Malerei die Haltung, dass Form beschädigt, so drückt sich in den neueren Arbeiten eine Haltung aus, dass es ohne Form und Struktur nicht geht. Aber Form und Struktur müssen einen bestimmten Charakter besitzen, um nicht zu beschädigen und Freiheit und Individuelles zu ermöglichen. Rettig-Nicolas spezifische Gestaltung der Formgebung insistiert darauf, dass eine Ordnung transparent und einsichtig sein muss. Ihr formgebendes Gesetz muss Raum zwischen den Einzelnen zur Individuierung ermöglichen. Schließlich muss eine Ordnung - wie im konkreten Kunstwerk - das Resultat vernünftiger Überlegungen freier Subjekte sein, damit sie versteh- und planbar ist. Nur so und nur dann findet das in ihr Eingeordnete Ruhe ohne Beschädigung seiner Besonderheit und Freiheit - untergeordnet ist es nur der eigenen aber allgemeinen Autonomie. Dies ist der fantastische gesellschaftspolitische Gehalt der Arbeiten von Gisela Rettig-Nicola. Denn die bürgerliche Gesellschaft unserer Zeit ist nach wie vor eine herrschaftliche Ordnung, deren formgebendes Gesetz weder unmittelbar einsichtig noch das Resultat der Autonomie der Subjekte ist. Rettig-Nicolas Kunstwerke richten sich auf gegen die falsche Ordnung.
Hierin folgt sie dem Anspruch konkreter Kunst, wie er z. B. von Richard Paul Lohse formuliert wurde:„Durch die Verwendung objektivierter Mittel, die Durchschaubarkeit ihrer Methoden, die Möglichkeit der Vorausberechenbarkeit, die Bildung unlimitiert-gesetzlicher Strukturen ist sie (die konkrete Kunst, pvio) in ihren Denk- und Arbeitsmethoden modellhaft auf die Veränderung der Gesellschaft und der Umwelt gerichtet.“
Anders aber als Lohse, behält sich Rettig-Nicola richtigerweise eine Skepsis gegenüber jeder Formgebung vor. Schnittweise1 (2) insistiert auf der Reflexion, dass jede Struktur mit Einschneidungen einhergehen kann. Ihre frühe Ahnung, Form könne beschädigen hat ebenso ihr Recht wie der Verweis auf die vernünftige, gute Form als Rettung ihres Inhalts. Eine Schwierigkeit, mit der freie Menschen umgehen könnten.


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