

Es wäre nicht nur ein Akt nachholenden Anstandes und viel beschworener, aber kaum praktizierter Empathie. Es wäre – angesichts eines Gedenkens an den Nationalsozialismus, das längst auf epistemische Entkernung des Holocausts und moralistische Selbstvergewisserung zusammengeschrumpft ist – ein gedenkpolitisches Wunder, wenn an diesem Sonntag, dem sogenannten Volkstrauertag, dem Tag der Opfer von Krieg, Terror und Gewaltherrschaft, auch nur ein einziger Staats- oder Regierungsvertreter nachträglich öffentlich das Schicksal von Kfir und Ariel Bibas erwähnte.
Kfir und Ariel Bibas wurden am 7. Oktober 2023 – als die Hamas und palästinensische Zivilisten das schlimmste und barbarischste Pogrom seit der Shoa mit 1200 Toten verübten – verschleppt und schließlich mit bloßen Händen ermordet. Kfir war bei seiner Entführung acht Monate alt, bei seiner Ermordung in Geiselhaft ein Jahr. Ariel wurde mit vier verschleppt, mit fünf getötet. Sterben mussten sie, weil sie Israelis, weil sie Juden waren – die Antisemiten der Hamas wie ihre palästinensischen und nicht-palästinensischen Unterstützer machen da keinen Unterschied, auch wenn sie es öffentlich gerne behaupten. Ein Blick auf die selbstgedrehten Videos der Schlächter des 7. Oktober – die jedes nicht menschenfeindliche Vernunftwesen zutiefst verstören – oder in die Kommentarspalten jedes beliebigen Mediums unter einem Israel betreffenden Beitrag genügt, um zu sehen, dass die Differenzierung zwischen Israelis und Juden ausschließlich im Kopf deutscher Völkerrechtler und „Holocaustexperten“ mit – freundlich formuliert – Israelbias existiert. In den Köpfen ihrer Feinde existiert sie nicht.
Deutsches Schweigen
Doch trotz Staatsräson, trotz der historischen Verantwortung Deutschlands und trotz der Tatsache, dass die Bibas-Kinder deutsche Staatsbürger waren, trat weder der Bundespräsident noch der damalige Bundeskanzler Scholz noch die damalige Außenministerin Baerbock vor ein Mikrofon, um öffentlich Trauer über diese jungen Opfer antisemitischen Terrors und islamistischer Vernichtungswut auszusprechen; um den in Gaza herrschenden eliminatorischen Erlösungsantizionismus als Mordmotiv und Ursache für das Leid auf israelischer und palästinensischer Seite zu benennen und zu verdammen. Scholz twitterte stattdessen die üblichen aldipostkartengleichen Floskeln, die Steinmeier etwas hübscher formuliert als Kondolenzbrief an den Vater sandte, der – im Gegensatz zur Mutter – seine Geiselhaft überlebte.
Baerbock schließlich setzte der Kälte und Ignoranz noch eine Schippe drauf und forderte – gedanklich schon UN-Präsidentin – nach Bekanntwerden der Ermordung der Kinder die Wiederaufnahme der Finanzierung der UNWRA. Einer Organisation, die nicht nur strukturelles Hindernis für Frieden zwischen Israel und den Palästinensern ist, weil sie deren Ausnahmezustand mit der Vererbung ihres Flüchtlingsstatus verfestigt. Dem Flüchtlings(produktions)werk gehörten auch Terroristen des 7. Oktober an, und in ihm werden palästinensische Kinder zu dem antizionistisch codierten Judenhass erzogen, der Kfir und Ariel das Leben kostete und Juden überall auf der Welt verängstigt, da er in allen gesellschaftlichen Milieus vor allem Auf- und nahezu keinen Gegenwind erfährt.
Der verharmloste Antisemitismus
Auch nicht am vergangenen 9. November, dem Gedenktag an die Reichspogromnacht. Bundespräsident Steinmeier sprach in seiner 45-minütigen Rede zwar von Antisemitismus von rechts, links und unter Muslimen. Er sagte „Nie wieder“ und forderte zum Kampf gegen Antisemitismus auf. Doch die Vorstellung davon, was der Antisemitismus der Nazis gewesen sein soll, die er in seiner Rede präsentierte, untergräbt den von ihm zurecht geforderten Kampf.
Wenn Steinmeier behauptet, die Vernichtung der europäischen Juden sei die Konsequenz dessen, dass „Menschen als vermeintlich Andere ausgegrenzt, verfolgt, gequält“ worden seien und man ihnen die „Menschlichkeit abgesprochen“ habe, verharmlost er Antisemitismus zum Vorurteil. Dabei ist er in Wahrheit ein gesellschaftlich produzierter Wahn, der – abzulesen an den heutigen Vorwürfen gegen Juden, Israelis und „Zionisten“ – sowohl die Ursachen von Ohnmachtserfahrungen, narzisstischer Kränkung und realer Ungerechtigkeit als auch die scheinbar unendliche Akkumulationskraft des Kapitals auf die Juden bzw. – postnazistisch, postkolonial oder islamisch codiert – auf Israel projiziert. Der Antisemit glaubt leidenschaftlich, durch die Vernichtung der Juden oder Israels vom eigenen Leiden erlöst und der eigenen, aber im Kapital entfremdeten Handlungsmacht habhaft zu werden. „Die Juden sind unser Unglück“ hieß es damals, „No one is free until Palestine is free“ heißt es heute.
Verlust der Tätermotivation
Von dieser Motivation abstrahiert Steinmeier vollständig. Statt zum 9. November auszuführen, dass der Kern des Holocausts darin liegt, dass Antisemitismus Juden nicht bloß entmenschlicht, sondern zur „Gegenrasse“ der Menschheit erklärt, die vernichtet werden muss, erklärt Steinmeier das bloße Opferwerden – aus welchen Gründen auch immer – zur Fluchtlinie des Nationalsozialismus, auf der nicht nur dessen Spezifik, sondern er schließlich selbst verschwindet. Auf dieser Grundlage erscheint überall dort, wo Grauen geschah oder geschieht, Faschismus oder der Holocaust – auch dort, wo sich die Juden gegen ihre bewaffneten und barbarisch vorgehenden Feinde wehren. Weil ihr militärischer wie institutioneller Abwehrkampf Opfer produziert – von Raketen und Ungleichbehandlung.
Wenn es nur noch darum geht, dass es Opfer gibt, dann dreht sich am Ende alles nur um Opferzahlen. Der Böseste – die Inkarnation von Hitler – ist dann derjenige, durch dessen Handlungen die meisten Toten zu verzeichnen sind. Die Hamas weiß das, und sie versorgte die Welt – anders als etwa die Ukraine – durchgängig mit Opferzahlen, die nicht nur „israelkritische“ Medien routiniert ans Ende jedes Berichts stellten. Im Gegensatz zu Meldungen über Russlands Krieg: Kennt irgendwer die konkreten Zahlen?
Aufwind für Antisemitismus
Steinmeiers Rede bzw. seine dahinter liegende Vorstellung untergräbt also deshalb den Kampf gegen Antisemitismus, weil auf ihrer Grundlage Antisemiten ihren Hass auf Juden als gerechtfertigten Kampf gegen Faschismus verkleiden können. Sie gibt Antisemitismus moralischen Aufwind.
Sie hilft, die Spezifik des Holocausts aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein zu verdrängen. Diese zu kennen ist aber Voraussetzung dafür, die moderne und gefährlichste Erscheinungsform des Antisemitismus zu erkennen: den antizionistischen, der gegen Israel und – wenn sie sich nicht von Israel distanzieren – zu rassistischen Zionisten gemachte Juden zur Tat schreitet. Zudem ermöglicht die Kenntnis der Spezifik des Holocausts, Israels Vorgehen als von seinen Feinden aufgezwungenen Abwehrkampf zu verstehen und hilft so, den antisemitischen Reflex zu bändigen.
Steinmeiers gleichzeitige Verharmlosung und moralische Absicherung des Antisemitismus ist nicht nur Ausdruck verlorener historischer Urteilskraft oder parteipolitischer Opportunität – obwohl beides zutrifft, lief seine Rede lediglich auf das Werben für ein AfD-Verbot hinaus, für das die epistemische Entkernung des Holocausts zur allgemeinen Übertragung auf den - in der Tat für Liberalität und freie Menschen bedrohlichen - politischen Gegner weit rechts der Mitte ihre Funktion erfüllt.
Steinmeiers Einsichten in die Geschichte verdrängende Gedenkrede ist Ausdruck einer allgemeinen kulturellen Verschiebung, die sich in der Gedenkpolitik niedergeschlagen hat und sich exemplarisch am Wandel des Volkstrauertages vom Tag gefallener Helden zum Tag der Opfer zeigen lässt. Das zu tun, hat aber nicht nur illustrierenden Charakter, sondern hilft zu verstehen, warum man vor allem in Israel – trotz höherer Opferzahlen in anderen Konflikten – nun "auch ein(en) Täter“ sieht, wie Stephan Detjen es im Deutschlandfunk formulierte.
Die Dialektik des Opfers
Am Wandel des Volkstrauertages lässt sich zeigen, was der Historiker Jan Georg Gerber in seinem empfehlenswerten Buch „Das Verschwinden des Holocausts“ als „Dialektik des Opfers“ beschrieben hat. Ursprünglich nach dem ersten Weltkrieg ein Tag der Gefallenen, verwandelte der Volkstrauertag Todesopfer in Helden, Schmerz in Sinn, Leid in Dienstbarkeit. Im Nationalsozialismus wurde daraus ein Heldengedenktag: eine sakrale Inszenierung militärischer Männlichkeit. Nach 1945 war dieses Pathos unhaltbar und das heroische Subjekt verschwand der Tendenz nach aus dem Gedenken. In den 1970er-Jahren trat langsam das Opfer an seine Stelle.
Dieser Wechsel spiegelte sich auch in der Popkultur. Auch hier verabschiedete man sich vom klassischen Helden. Clint Eastwood verkörperte die letzten Schatten des souveränen Westmanns, doch mit Figuren wie Travis Bickle und Michael Corleone zerfiel der Held in Schuld und Wahn. Die 1980er-Jahre inszenierten dann als letztes Aufbegehren muskelbepackte Übermenschen – leere Simulationen vergangener Stärke. Mit Bruce Willis als John McClane wurde der Held zum erschöpften Durchschnittsmenschen. Heute leidet der Held, zweifelt, scheitert; er ist Opfer seiner Geschichte. Der Vergleich von Adam Wests und Robert Pattinsons Batman ist ein eklatantes Beispiel. Der alte unerschütterlich, der neue Erschütterung im Fledermauskostüm.
Sozialpsychologie der Opferidentität
Der gesellschaftliche Strukturwandel seit dem Ende des Fordismus hat diese Hinwendung zum Opfer hervorgebracht, weil er eine allgemeine Selbsterfahrung als Opfer erzeugte. Mit dem Niedergang stabiler Klassenlagen, kollektiver Arbeitszusammenhänge und realer Aufstiegshoffnungen zerfiel laut Gerber die Grundlage jener „Selfmade“-Ideologie, die den bürgerlichen Subjektbegriff lange getragen hat. Was geblieben ist, ist das Individuum als Unternehmer seiner selbst – verantwortlich für Scheitern und Erfolg zugleich. Diese totale Selbstverantwortung im neoliberalen Modus führt paradoxerweise nicht zu Souveränität, sondern zu Überforderung und narzisstischer Kränkung. Wenn Glück und Scheitern ausschließlich als persönliche Leistung codiert sind, wird jedes Misslingen als Ungerechtigkeit erlebt – und das Ich rutscht in die Position des Opfers. Das Opfer wird zur Identifikationsfigur im Kulturellen.
Diese Opferperspektive war eine Voraussetzung dafür, den Holocaust überhaupt als singuläres Menschheitsverbrechen zu begreifen. Doch indem das Opfer zur unhinterfragten Bezugsgröße kollektiver Empathie und Moral wurde und sich die Opferperspektive über das allgemeine neoliberale, narzisstische Ich universalisierte verschwand zum einen immer mehr die Motivation der Täter aus dem Blick – so wie bei Steinmeier und den postkolonialen Palästinaaktivisten, die in Gaza kontrafaktisch ein Konzentrationslager erblicken wollen. Zum anderen sieht die abstrakte Opferperspektive in jedem, der – wie Israel – kein Opfer sein will, sofort einen Täter. Die Opferperspektive produziert Ressentiment, weil sie eine das gebrochene Ich stabilisierende Funktion hat, weshalb sie mit Fakten kaum zu korrigieren ist. Das Bittere: Wie die Juden von den Deutschen unter anderem als Verkörperung des Geldes verfolgt wurden, weil man sie zum Geldhandel zwang, so werden Israel und die Juden, die ihren Staat als Schutzstätte verteidigen, als Täter angeprangert, weil sie Handlungsmacht gegen ihre Feinde demonstrieren, die den Staat der Juden seit seiner Gründung auslöschen wollen.
Gedenken als Vergessen
Die Erinnerungskultur der Gegenwart oszilliert somit zwischen Humanisierung und Geschichtsrelativierung: Sie will niemanden mehr ausschließen, aber gerade dadurch verliert sie das Trennende aus dem Blick. Das führt zu jener paradoxen Situation, in der ausgerechnet der Imperativ „Nie wieder!“ zu einer universalen, aber geschichtslosen Formel geworden ist. Der Holocaust wird nicht mehr verstanden, sondern symbolisch, zur moralistischen Selbstvergewisserung beschworen – und seine Spezifik, die Vernichtung der Juden als ideologisches Zentrum des Nationalsozialismus, gerät unter die Räder einer allgemeinen Opfermetaphysik.
Diese Verkehrung erklärt, warum die Bibas-Kinder im offiziellen Gedenken des Volkstrauertages nicht vorkommen werden. Und warum am 9. November der Bundespräsident das Pogrom vom 7. Oktober – die von Terroristen und Zivilisten begangene systematische barbarische Ermordung, Folter und Vergewaltigung jüdischer Zivilisten – nicht erwähnte: Juden sind jetzt „auch Täter“, und von Tätern wird nicht gesprochen. - Erinnern heißt in Deutschland nicht kämpfen, sondern Vergessen.



