

Im Bundestag gilt seit Anfang November eine neue Geschäftsordnung – die umfangreichste Reform seit 1980. Union und SPD wollen damit, wie Bundestagspräsidentin Julia Klöckner betont, „die Würde der Debatte“ und den „fairen Umgang zwischen Mehrheit und Minderheit“ sichern.
Der Bundestag soll wieder stärker Ort des Arguments werden, nicht der Provokation. Kern der Reform ist eine Kombination aus neuen Verfahrensregeln, einer verschärften Ordnungspraxis und einem verbindlicheren Kodex für den sprachlichen Umgang. In § 33 wird nun ausdrücklich festgeschrieben, dass Reden von „gegenseitigem Respekt und der Achtung der anderen Mitglieder des Bundestages sowie der Fraktionen“ geprägt sein sollen. Zwischenfragen sind künftig auch in Aktuellen Stunden erlaubt, die Redezeiten werden klarer begrenzt, und der Bundestagspräsident kann Verstöße strenger ahnden.
Wer dreimal innerhalb einer Sitzung zur Ordnung gerufen wird, muss den Saal verlassen; drei Ordnungsrufe innerhalb von drei Sitzungswochen führen automatisch zu einem Ordnungsgeld. Dieses wurde verdoppelt – auf 2000 Euro, im Wiederholungsfall auf 4000 Euro. Auch unentschuldigtes Fehlen bei namentlichen Abstimmungen wird stärker sanktioniert.
„Frontalangriff auf die Opposition“
Die Koalition versteht die Reform als Antwort auf eine Verrohung der politischen Sprache und den zunehmenden Verlust an Disziplin im parlamentarischen Alltag. Gerade provokante Auftritte und beleidigende Zwischenrufe, häufig aus Reihen der AfD, hätten in den vergangenen Jahren für Schlagzeilen gesorgt. Kritiker der Reform – insbesondere aus der AfD, aber auch Stimmen aus Grünen und Linken – werfen Union und SPD jedoch vor, die neuen Regeln seien ein Instrument, um unliebsame Wortmeldungen zu unterdrücken.
Der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner sprach im Bundestag von einem „Frontalangriff auf die Opposition“. Die Grünen monieren, die Reform bleibe zu defensiv: Statt mehr Sanktionen brauche es eine „lebendige Beteiligungskultur“ und mehr Transparenz, etwa durch öffentliche Ausschusssitzungen oder eine stärkere Einbindung von Petitionen. Trotz dieser Einwände überwiegt in der schwarz-roten Regierungskoalition die Hoffnung, mit klareren Grenzen und kürzeren, konzentrierten Debatten die Glaubwürdigkeit und Ernsthaftigkeit parlamentarischer Arbeit zu stärken – und so ein Stück Vertrauen in die politische Streitkultur zurückzugewinnen.
„Wir begrüßen strengere Regeln“
In der lokalen Politik werden die Änderungen im Bundestag unterschiedlich bewertet. Für Eike Holsten (CDU, Rotenburg) ist die Reform ein Schritt in die richtige Richtung: „Wir begrüßen strengere Regeln für einen respektvollen Umgangston“, sagt er. Die Erfahrung - auch aus dem niedersächsischen Landtag - zeige, dass Pöbeleien und Störungen geahndet werden müssen, um „die Würde des Hauses“ zu schützen. Eine klare Linie verhindere, dass einzelne Fraktionen den Ton vergiften: „Man sieht ja, dass vor allem eine Fraktion immer wieder durch Provokationen auffällt.“ Gemeint ist die AfD: 15 von 20 Ordnungsrufen im Landesparlament seit 2022 seien an sie gerichtet gewesen. „Solche Entgleisungen darf man nicht unwidersprochen lassen.“
Auch Reinhard Bussenius (Grüne, Rotenburg) hat mit den neuen Regeln kein Problem: „Was man sagen will, kann man ja im sachlichen Ton auch vorbringen. Persönliche Anmache gehört natürlich auch nicht in den Bundestag.“ Ähnlich äußert sich Udo Mester (SPD, Osterholz), der betont: „Regeln im Umgangston bei politischen Debatten sind selbstverständlich für uns. Es verbietet sich, beleidigend zu sein.“
Keine Notwendigkeit im Kreistag
Auf die Frage, ob auch die Kreistage strengere Regeln brauchten, reagieren die Fraktionsvorsitzenden zurückhaltender. Bernd Wölbern (SPD, Rotenburg) sagt, für den Kreistag bestehe „aktuell keine Notwendigkeit, die Regeln zu verschärfen“. Entscheidend sei die Qualität der Sitzungsleitung: „Eine souveräne und regelfeste Sitzungsleitung ist unabdingbar.“ Wilfried Pallasch (Bürgerfraktion/FDP, Osterholz) lehnt zusätzliche Regelungen sogar ab: „Ich finde, es ist kein gutes Zeichen, wenn man besondere Regeln aufstellen muss, um auf einen Umgangston Einfluss zu nehmen.“ Statt immer neuer Vorschriften brauche es Verantwortungsbewusstsein: „Durch mehr Regelungen werden keine Verfehlungen verhindert, allenfalls Sanktionen ermöglicht.“
Auch Felix Freigang (AfD, Osterholz) teilt diese Haltung: „Strengere formale Regeln halten wir derzeit nicht für notwendig. Entscheidend ist weniger ein immer dichteres Regelwerk, sondern die Haltung der Beteiligten.“ Politische Streitkultur brauche, so Freigang, „Respekt, Verantwortungsbewusstsein und das Bewusstsein, dass wir alle gemeinsam Verantwortung für das Klima im Kreistag tragen.“
„Respektvolle und wertschätzende Diskussionskultur“
Was die Lage vor Ort betrifft, herrscht Einigkeit über die weitgehend sachliche Diskussionskultur in den kommunalen Gremien. „Ich nehme eine insgesamt respektvolle und wertschätzende Diskussionskultur wahr“, sagt Wölbern. Entgleisungen seien selten und könnten bei Bedarf „durch entsprechendes Einschreiten der Sitzungsleitung gut gehandhabt werden“. Auch Holsten betont: „Da vergreift sich mal einer ungeschickt im Ton, aber wirklich eklatante Ausfälle habe ich vor Ort persönlich noch nicht erlebt.“ Mester pflichtet dem bei: „Aus unserer Sicht geht es in der aktuellen Besetzung des Kreistages durchaus sachlich und respektvoll zu.“ Pallasch verweist auf die gute Praxis im Osterholzer Kreistag: „Ich kann auch nicht erkennen, dass unterschiedliche Meinungen in ehrverletzender Weise vorgebracht werden. Ich kann mich in meiner gesamten Zeit nur an einen einzigen Vorgang erinnern.“ Bussenius beschreibt die Atmosphäre in Rotenburg ähnlich: „Da wird in der Regel sehr sachlich argumentiert. Die Abgeordneten gehen grundsätzlich fair miteinander um.“




