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Antisemitismus bleibt aktuell

Niedersachsen (jm). Der Niedersächsische Landesbeauftragte gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens, Franz Rainer Enste hat seinen zweiten Jahresbericht vorgelegt. Antisemitismus nimmt in Niedersachsen wieder zu.
Im Judenhass vereint: Großmufti Amin al-Husseini und Adolf Hitler 1941. Der Großmufti spielte eine zentrale Rolle bei der Ausbreitung des Antisemitismus im arabischen Raum.

Im Judenhass vereint: Großmufti Amin al-Husseini und Adolf Hitler 1941. Der Großmufti spielte eine zentrale Rolle bei der Ausbreitung des Antisemitismus im arabischen Raum.

Bild: Bundesarchiv, Bild 146-1987-004-09A / Heinrich Hoffmann / CC-BY-SA 3.0

Kaum hatte der Bundesgerichtshof seinen Prozess über die antisemitische Schmähplastik an der Stadtkirche Wittenberg - die Installation darf bleiben, weil sie aus Sicht des Gerichts durch eine Infotafel und einen Aufsteller ausreichend gekennzeichnet und eingeordnet ist - beendet, tauchte das Thema Antisemitismus wieder in den Nachrichten auf: Auf der Documenta in Kassel zeigte das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi ein „Wandgemälde“, das eindeutig judenfeindliche Bildsprache verwendet.
Auf dem seit 2002 öffentlich gezeigten Werk befindet sich unter anderem ein durch Schläfenlocken als jüdisch dargestellter Geschäftsmann mit Reißzähnen und Schlangenzunge. Auf dem Hut der Figur sind zwei Siegrunen, das Emblem der SS, zu sehen. In einer Reihe von Soldaten, die alle mit unmenschlichen Fratzen gezeichnet sind und Bezeichnungen wie „007“ oder „KGB“ auf ihren Helmen tragen, findet sich eine Figur mit Schweinsgesicht, die einen Davidstern und den Namen des israelischen Geheimdienstes Mossad trägt. Das umstrittene Werk mit dem Titel „People‘s Justice“ setzt sich mit der Suharto-Diktatur in Indonesien auseinander. Inzwischen wurde es abgehängt.
 
Zahl der Ermittlungsverfahren steigt
 
Parallel zum aktuellen Skandal veröffentlichte der Niedersächsische Landesbeauftragte gegen Antisemitismus und für den Schutz jüdischen Lebens seinen zweiten Jahresbericht. Demnach ist das Thema leider auch in Niedersachsen nach wie vor aktuell. Dem Bericht zufolge leiteten niedersächsische Staatsanwaltschaften im letzten Jahr mehr als 250 Verfahren im Zusammenhang mit Antisemitismus ein. 2020 waren es noch 180 Ermittlungsverfahren, im Jahr 2019 waren es 225. In 147 Fällen wird wegen Volksverhetzung und Gewaltdarstellung ermittelt, in 93 Fällen wurden die Ermittlungen wegen des Verdachts auf Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen aufgenommen.
Franz Rainer Enste nennt Veränderungen in der Gesellschaft als Gründe für die Zunahme von Antisemitismus - namentlich die Globalisierung und Digitalisierung. Beide sorgten für Ängste bei Einzelnen und Judenhass sei dafür ein Ventil, so der Landesbeauftragte. Er fordert deshalb mehr Aufklärungsarbeit. Kinder müssten früh Respekt vor dem Anderssein lernen. Es gebe in dieser Hinsicht schon viele Projekte, doch es seien offenbar noch nicht genug.
 
Erscheinungsformen von Antisemitismus
 
Beleidigungen, Schmierereien, Hassbotschaften im Internet oder körperliche Angriffe: Antisemitismus hat viele verschiedene Erscheinungsformen - ihnen ist im Jahresbericht ein eigenes Kapitel gewidmet. Hier zeichnet sich ein komplexes Bild von Judenfeindlichkeit. Es sind längst nicht mehr nur Parolen brüllende Neonazis, die antisemitische Weltbilder verbreiten.
Zur Frage von Antisemitismus unter Muslimen und Musliminnen liefern Menno Preuschaft und Carolin Scholz Zahlen: Im Nahen Osten und Nordafrika stimmten in einer Studie aus dem Jahr 2014 rund drei Viertel der befragten Musliminnen antisemitischen Aussagen zu. Unter muslimischen Teilnehmer:innen aus Südostasien waren es 37 Prozent, der weltweite Durchschnitt lag bei 26 Prozent.
Die Ursachenforschung zeige zwei Quellen: Islamische Texte könnten - entsprechend interpretiert - durchaus antijüdische Ressentiments schüren. Entsprechend kam es auch immer wieder zu Pogromen in der Region. Einen institutionalisierten Antisemitismus in Moscheen habe es aber im Nahen Osten bis ins 20. Jahrhundert nicht gegeben. Er verankerte sich erst ab Mitte der 1930er Jahre zunehmend in der muslimischen Welt und sei gewissermaßen aus Europa importiert worden. Die Nazis finanzierten die ägyptische Muslimbrüderschaft mit, betrieben ausländische Propaganda-Radiosender und machten frühe Gegner:innen eines jüdischen Staates wie den Großmufti Amin al-Husseini zu ihren Partnern. So verbreitete sich auch der verschwörungsideologische Antisemitismus in der Region. Diese Entwicklungen wirkten bis heute nach und seien neben der geografischen Nähe zum Israel-Palästina Konflikt eine Erklärung für die unterschiedlich starke Ausbreitung von Judenfeindlichkeit unter Musliminnen im arabischen und asiatischen Raum.
 
Das Internet als Brandbeschleuniger
 
Dass das Internet bei der Verbreitung von allerlei zweifelhaften Inhalten eine große Rolle spielt, dürfte hinreichend bekannt sein. Wie groß das Problem im Hinblick auf Antisemitismus ist, fasst Miriam Beschoten in ihrem Beitrag zum Jahresbericht zusammen. Das Internet fungiere als Brandbeschleuniger und Multiplikator zugleich. „Durch die Möglichkeiten der schnellen, multiplen, globalen und unkontrollierten Verbreitung sowie Rezeption werden User:innen allein quantitativ in einem nie zuvor da gewesenen Ausmaß mit antisemitischer Hassrede konfrontiert“, schreibt die Autorin. Ein Beispiel: In den Online-Kommentarspalten etablierter Presseorgane hat sich die Zahl der judenfeindlichen Äußerungen von 2007 bis 2018 laut einer Studie vervierfacht. An vielen Stellen im Internet fänden sich auch völlig kontextfremd antisemitische Äußerungen - die zudem oft ohne Widerspruch stünden.
„Mit diesem Anstieg geht eine qualitative Radikalisierung und Intensivierung der Antisemitismen einher“, stellt Beschoten weiter fest. Die Körperlosigkeit und Anonymität im Netz begünstigten eine Verrohung der Sprache. „Darüber hinaus verschwimmen online die Grenzen zwischen informationsvermittelnden und rein meinungsbeeinflussenden, persuasiven Textsorten.“ Ergebnis sei eine Gewöhnung an immer radikalere menschenfeindliche Aussagen. Diese würden im digitalen Raum von einer großen heterogenen Gruppe weitergetragen. Die Sprach- und Denkmuster glichen dabei Jahrhunderte alter Hassrhetorik: Viele Kommentare oder Tweets seien etwa mit antisemitischen Aussagen zu vergleichen, die im 16. Jahrhundert bereits bei Martin Luther zu finden waren.
 
„Globalisten“ statt „Juden“
 
Im Zuge der Corona-Pandemie haben uralte antisemitische Ideen neuen Aufschwung bekommen. „Der durch die pandemische Situation verursachte Ausnahmezustand hat weltweit in vielen Menschen ein Gefühl von Misstrauen und Kontrollverlust verursacht“, schreibt Astrid Wolter. Wie viele andere historische Ereignisse - zum Beispiel die Terroranschläge vom 11. September -, wird auch die Pandemie unter anderem von Rechtsextremen als Teil einer Weltverschwörung gedeutet. „Es ist der Versuch, ein zumeist unverständliches, komplexes Ereignis als das Ergebnis einer geheimen Verschwörung der ‚mächtigen, gierigen Juden‘ zu erklären“, so Wolter.
Der Glaube an eine solche Verschwörung wurzele in der Geschichte des Christentums. Die neu entstehende Religion sah das „auserwählte Volk“ bereits früh als Konkurrenz und erklärte es zum Feindbild. „Die Herabsetzung der jüdischen Bevölkerung und Religion wird zum integralen Bestandteil einer christlichen Lehre, die im Zuge des Abspaltungsprozesses vom Judentum die Notwendigkeit verspürt, sich selbst aufzuwerten.“ Im Mittelalter werden schließlich vielerorts Gesetze erlassen, die Juden eine Tätigkeit außerhalb des Finanzsektor verbieten, bald gelten sie als „gierig und „mächtig“. Später weicht die religiös begründete Ablehnung einer rassistischen: Jüdinnen und Juden wird wiederholt die Schuld an Umbrüchen, Krisen und Kriegen zugeschrieben. Ihre „Rasse“ habe die Veranlagung, die Welt beherrschen zu wollen und Missstände zu schaffen, um davon zu profitieren.
Dieses Narrativ sei auch im Bezug auf die Pandemie immer wieder zu hören. Statt explizit auf Juden und Jüdinnen zu verweisen und sich damit offen als antisemitisch zu outen, benutzten Rechtsextreme und Verschwörungsgläubige aktuell vermehrt den Begriff „Globalisten“. „Aus der Angst heraus, ihre homogenen nationalen, politischen und kulturellen Identitäten würden durch die Globalisierung zerstört, hat sich unter Rechtsextremen die Vorstellung verankert, es werde eine Ordnung des Globalismus aufgebaut.“ Der Begriff werde in Deutschland auch gerne von Mitgliedern der AfD genutzt.


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