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Tom Boyer

From London

London. Unser freier Mitarbeiter Tom Boyer absolviert nach seinem Abi einen einjährigen Freiwilligendienst in London und schreibt nun eine Kolumne darüber.

Gerade unmittelbar nachdem ich nach London umgezogen bin, spürte ich einen starken Drang, neue Menschen kennenzulernen. Die Suche nach neuen Bekanntschaften ist für Menschen als Sozialwesen wohl normal. Aber Bekanntschaften gestalten sich nur allzu unterschiedlich.

„Hast du hier eigentlich schon viele Freunde gefunden?“, fragte Harry mich vier Monate nach meiner Ankunft. Eine Frage, die ich von Leuten vor Ort genauso wie von Zuhause nach meinem Umzug häufiger gehört habe. „Was meinst du mit Freunden?“, erwiderte ich. Darauf wusste er erst einmal keine Antwort. Ich aber auch nicht. Wann werden aus Bekanntschaften also Freunde? Und habe ich denn nun Freunde gefunden?

Während ich hier einen Freundeskreis aufbaute wurde mir klar, dass Freundschaft für mich im Wesentlichen ein Zusammenspiel von zwei Ebenen bedeutet. Auf der kann ich zwanglos und mit Witz ausgelassene Unterhaltungen führen. Auf der anderen diskutiere ich über tiefergehende Themen, sowohl privater und intimer als auch philosophischer Natur. Wenn eine der beiden Ebenen nicht erfüllt wird, ist es für mich nahezu unmöglich, eine so enge und vertrauensvolle Bindung aufzubauen, dass ich von Freundschaft sprechen würde. Denn wenn Gespräche nicht auf diesen beiden Ebenen stattfinden, denke ich nicht, dass ich die andere Person so ausgiebig kenne, dass ich ihr völlig vertrauen würde. Was für mich zum Begriff Freundschaft gehört. Dabei ist es egal, ob Meinungen, Erfahrungen und Perspektiven weit voneinander abweichen. Man kann eine Menge voneinander lernen.

Mir wurde aber noch eine weitere Sache über Freundschaft klar. Ihre Intensität hängt nicht von der Dauer ab, die ich die andere Person kenne, sondern davon, wie viel Zeit man der anderen Person widmet, um gemeinsam auf den beiden Ebenen der Freundschaft zu schwingen. Natürlich wird der Bund auch stärker, wenn ich mit der Person viele Erlebnisse und Erfahrungen teile. Dennoch: Über viele Jahre geteilte Erfahrungen erreicht man nicht die Tiefe einer Freundschaft, die das gemeinsame Verweilen auf den beiden Ebenen der Freundschaft ermöglicht. Und da sich relativ schnell herausstellt, ob man mit jemandem diese Ebenen erreicht, ist eine tiefe Freundschaft auch in kurzer Zeit aufzubauen möglich. So war es zum Beispiel bei Maya.

Als ich Maya das erste Mal an der Rezeption sehe, schenke ich ihr nicht viel Beachtung, da ich sie als deutlich älter einschätze. Wie sich herausstellte, war Maya genau wie ich 19 Jahre und hat eine sehr beeindruckende Lebensgeschichte vorzuweisen. Ihre ersten Jahre verbrachte sie in Neuseeland. Dann führte es ihre Familie kurzzeitig nach Frankreich und letztendlich ist sie mit Bruder und Eltern fast ein Jahrzehnt in London aufgewachsen, bevor es sie mit ihrer Familie letztes Jahr nach Kanada verschlagen hat.

Sie ist sehr aufgeschlossen, gutmütig und humorvoll. Manchmal ein bisschen verplant und zu rücksichtsvoll, wenn sie ihre Meinung nicht kundtut, um Diskussionen zu vermeiden.

Für ein Auslandssemester war sie in Edinburgh, den Sommer über hat sie aber in London gearbeitet um alte Freunde wiederzutreffen. Sie war also genau so wie ich temporär da und hatte, wie sie selbst sagte, gar nicht zwingend die Intention, neue Freundschaften zu schließen, da sie in London einen großen Freundeskreis hatte.

Aber: Nach wenigen Tagen sind wir abends oft bis in den Morgen durch den Park gegangen, haben dort erhitzt diskutiert, viel gelacht und oft vergessen, dass wir am nächsten Morgen arbeiten müssen. Eine tiefe Freundschaft ist entstanden – innerhalb von wenigen Wochen. In Edinburgh und London haben wir uns gegenseitig besucht. Sie ist mittlerweile in Kanada, die Freundschaft wird bleiben.


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