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Die Lehren, die der Westen aus dem Krieg gegen die Ukraine ziehen muss

Bremervörde (rgp). Der Westen, aber vor allem die Bundesrepublik hat sich in der Vergangenheit zu stark danach gerichtet, was Putin will - Ljudmyla Melnyk vom Institut für Europäische Politik fordert ein Umdenken.
Die gebürtige Ukrainerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik (IEP) Ljudmyla Melnyk. Sie leitet das „German-Ukrainian Researchers Network“ (GURN).

Die gebürtige Ukrainerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik (IEP) Ljudmyla Melnyk. Sie leitet das „German-Ukrainian Researchers Network“ (GURN).

Seit dem 24. Februar führt Russland einen offenen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der hybride Krieg begann allerdings bereits 2014 mit der rechtswidrigen Annexion der Krim und der verdeckten Invasion im Osten der Ukraine.
Seitdem haben sich drei Dimensionen des Krieges herausgebildet: die militärische, die virtuelle durch gezielte Cyberangriffe sowie die informelle durch Propaganda und Desinformation.
 
Die Referentin
 
Um diese Themen nach einem Eingangsreferat zu diskutieren, durfte Werner Hinrichs am Mittwoch als Sektions-Leiter der Gesellschaft für Sicherheitspolitik (GSP) im EWE-Kundencenter mit der gebürtigen Ukrainerin Ljudmyla Melnyk eine ganz besondere Referentin begrüßen: Seit 2016 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Europäische Politik (IEP). Melnyk lebt mit ihrem ukrainischen Ehemann und Kind in Berlin, wo sie Ukraine bezogene Projekte, darunter das „German-Ukrainian Researchers Network“ (GURN), leitet - mit dem ukrainischen Botschafter gleichen Namens in Berlin ist sie jedoch nicht verwandt. Melnyks Arbeit ist weltweit anerkannt - kürzlich war sie z. B. aus Lissabon der Phönix-Runde im TV zugeschaltet.
 
Der Angriffskrieg in Zahlen
 
In ihrem Vortrag beleuchtete Melnyk den russischen Angriffskrieg nach verschiedenen Facetten. Mit zahlreichen Grafiken bebilderte sie ihre Ausführungen: 93% der befragten Ukrainer glaubten an den Sieg der Ukraine, 83% von ihnen leisteten selbst in irgendeiner Form Widerstand gegen die russische Aggression. Derzeit (Stichtag: 16.05.2022) befänden sich allerdings 6.266.844 Millionen Flüchtlinge im Ausland. Die Zahl der intern vertriebenen Personen (internally displaced people/IDPs) bezifferte sie mit 8.029.000 Millionen (Stand: 03.05.22). 1.300.000 Menschen (darunter 223.000 Kinder) wären mittlerweile nach Russland deportiert worden. Das Bruttoinlandsprodukt der Ukraine sei um 35-40% gesunken, die Inflationsrate im Jahr 2022 betrüge 15-20%. Der Wiederaufbau der Ukraine dürfte nach aktuellen Schätzungen 600 Milliarden US-Dollar kosten.
Positiv bewertet werden dürften jedoch die am 28. Februar erfolgte Anbindung der Ukraine an das Stromnetz der Europäischen Union - bei der EU sei im April obendrein ein Antrag auf den Kandidatenstatus gestellt worden.
45 russische Soldaten, die sich nachweislich der Kriegsverbrechen schuldig gemacht hätten, wären mittlerweile identifiziert. Gegen drei von ihnen würden erste Verfahren eingeleitet. (Einer hat sich bereits schuldig erklärt.)
 
Verhältnis zwischen Sprache und Nationalität
 
Die Bevölkerung der Ukraine spreche sich zu 83% für die ukrainische Sprache als Staatssprache aus - dem gegenüber stünden 8%, die diesbezüglich die russische Sprache favorisierten. Für 76 % sei Ukrainisch mittlerweile die Muttersprache (2012: 57%), während 20% hier noch Russisch angeben (2012: 42%). Weiter führte Melnyk aus, dass es auf der Krim vor der Annexion bereits 600 russischsprachige, aber lediglich sieben ukrainischsprachige Schulen gegeben hätte, die jedoch allesamt nach der Annexion geschlossen worden wären. Wenig überraschend sei daher die Tatsache, dass aus den knapp 50%, die im Dezember 2013 einen Beitritt zur EU befürworteten, mittlerweile weit über 90% geworden wären. Dabei gäbe es in den Regionen der Ukraine unterschiedliche Stimmungen: So entfielen 82% der Zustimmungen auf den Osten, 90% auf den Süden, 93% auf das Zentrum, sowie 96% auf den Westen des Landes (Stand: 30.-31. März). 72% der Ukrainer:innen bewerteten einen Beitritt zur NATO als positiv.
 
Die Konflikte
 
„Als ich nach Deutschland kam, dachte ich, man weiß über all diese Verbrechen Bescheid“, wunderte sich Melnyk über die hiesige Unkenntnis vieler historischer Konflikte zwischen Russland und der Ukraine. Denn die Auseinandersetzungen beider Völker haben eine lange grausame Vergangenheit, in der Russland immer wieder als Aggressor auftrat. Angefangen im Jahr 1863 mit dem Walujew Erlass, fortgesetzt mit dem Emsar Erlass 1876 (der russische Zar ließ die Verbreitung von literarischen Schriften in ukrainischer Sprache im Russischen Kaiserreich verbieten), zieht sich die Geschichte der Gewalt über den grausamen Holodomor (1932-33) sowie die unter dem Begriff „Erschossene Renaissance“ bekannten Hinrichtungen von mehr als 1.000 Künstler:innen (darunter 300 Schriftsteller:innen) im Zeitfenster von 1933-37 bis zu den „Gaskriegen“ 2006/2009, der Annexion der Krim sowie dem nun erfolgten Angriffskrieg der Russen fort.
Artikel in kremltreuen Medien kommunizierten Botschaften wie „Die Ukraine darf nicht souverän sein“, „Der Name Ukraine darf nicht beibehalten werden“ bis zu „Bandera-Regime soll liquidiert werden“ (der Begriff „Banderivci“ bezeichnet Bewohner:innen der Westukraine, bzw. die Ukrainer:innen, die die ukrainische Sprache sprechen, als Faschisten).
 
Die Lehren für den Westen
 
„Wir haben uns ständig mit Putin beschäftigt, uns die Frage gestellt, was er will. Wir sollten jedoch andere Fragen stellen - Welche gemeinsame Zukunft wollen wir mit der Ukraine, und was wollen wir selbst?“ fragte Melnyk in die gut besuchte Zuschauer:innenrunde. Die ukrainische Seite habe stets auf Treffen zwischen den jeweiligen Präsidenten der Länder gepocht, die russische Seite jedoch permanent auf derartige Treffen verzichtet. Dem „Westen“ bzw. der Bundesrepublik Deutschland empfiehlt Melnyk, die regionale Expertise und westliche Organisationen zu stärken, den historischen Kontext sowie kollektive Erfahrungen osteuropäischer Staaten künftig eindringlicher zu berücksichtigen. Weiterhin sollten die mediale Kompetenz ausgebaut, und der EU-Beitrittsstatus für die Ukraine unterstützt werden.
 
 
Kurz erklärt
Holodomor: Der Begriff steht für „Tod durch Hunger“ und ist der Name für die von Stalin forcierte Hungersnot in den 30er Jahren in der Ukraine, der drei bis sieben Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die Ukraine bemüht sich seit der Unabhängigkeit 1991 um eine internationale Anerkennung des Holodomors als Völkermord, doch ist diese Bewertung bis heute umstritten.
 
Bandera-Regime: Stephan Bandera (1909 bis 1959) war ein ukrainischer Nationalist und Antisemit, der in der Ukraine gespaltete Aufmerksamkeit erfährt: Während er im Osten als NS-Kollaborateur und Kriegsverbrecher gilt, wird er im Westen der Ukraine als Nationalheld verehrt.
Die kollektiven Erfahrungen osteuropäischer Staatenmüssen künftig stärker berücksichtigt werden.


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