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Ungleichheit auf neuem Höchststand

Die Einkommensschere in Deutschland öffnet sich so stark wie seit Mitte der 1980er Jahre nicht mehr. Zu diesem Ergebnis kommt ein neuer Bericht der Hans-Böckler-Stiftung.

Die Studie von Dr. Dorothee Spannagel stützt sich auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) bis 2022 und auf die jährliche WSI-Erwerbspersonenbefragung. Ihr Befund fällt deutlich aus: Seit 2010 wächst die Ungleichheit, ab 2018 legt sie noch einmal spürbar zu. Und mit dieser Verschiebung steige das Misstrauen vieler Menschen in staatliche und demokratische Institutionen, warnt die Autorin.

Als Grundlage dienen dem Bericht die regelmäßig erhobenen Haushaltseinkommen des SOEP sowie aktuelle Daten aus einer eigenen Umfrage des WSI, die zwischen 5.000 und 7.500 Erwerbstätige und Arbeitsuchende zu Arbeits- und Lebensbedingungen befragt. Beide Quellen erlauben einen Blick sowohl auf die materielle Lage der Haushalte als auch auf ihre Haltung zu Politik und Institutionen.

 

Was bedeutet Armut?

Armut wird im wissenschaftlichen Kontext relativ definiert: Arm ist, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat; „strenge Armut“ beginnt unterhalb von 50 Prozent. Reichtum setzt bei mehr als 200 Prozent des Medians an, über sehr großen Reichtum verfügen Haushalte, die mehr als das Dreifache des Medianeinkommens verzeichnen.

Für Alleinstehende in Deutschland heißt das derzeit: unter 15.439 Euro jährlich leben sie in Einkommensarmut, unter 12.866 Euro in strenger Armut und ab knapp 51.500 Euro im einkommensreichen Bereich. Die Schwellen markieren, wo nach Forschungslage die Teilhabechancen spürbar einbrechen – von stabilen Wohnsituationen über kulturelle Aktivitäten bis zu politischem Engagement. Wer nach dieser Definition arm ist, läuft nicht zwangsläufig Gefahr, zu verhungern, ist aber vom üblichen Lebensstandard so weit entfernt, dass es spürbare Auswirkungen auf das Sozialleben hat. Deshalb, so Spannagel, sei es irreführend, unterhalb der 60-Prozent-Grenze nur von einem „Armutsrisiko“ zu sprechen.

 

Eine Dekade der Spreizung

Der WSI-Bericht zeichnet die Entwicklung der vergangenen Jahre nach. Im Mittelpunkt steht dabei der Gini-Koeffizient, das international gebräuchlichste Maß für Einkommensverteilung. Er reicht von 0 bis 1. Ein Wert von 0 würde bedeuten, dass alle Menschen exakt gleich viel verdienen; ein Wert von 1 stünde für eine Situation, in der eine einzige Person das gesamte Einkommen erhält und alle anderen leer ausgehen. Dazwischen zeigt der Gini, wie stark sich die Einkommen annähern oder auseinanderentwickeln.

Im Jahr 2010 lag er in Deutschland bei 0,282 – ein Wert, der bereits auf eine spürbare Spreizung hindeutet. Bis 2022 steigt der Koeffizient auf 0,310 und erreicht damit den höchsten Stand in der Geschichte des SOEP, das erstmals 1984 erhoben wurde (betrachtet man Vermögen statt Einkommen, lag der Wert in Deutschland 2021 bei 0,73). Auch andere Indikatoren legen zu: Der Theil-Index, der Veränderungen am unteren Rand stärker abbildet, steigt deutlich, ebenso der Palma-Index, der die Einkommen der reichsten zehn Prozent ins Verhältnis zu den ärmsten vierzig Prozent setzt. Parallel wächst die Armutsquote von 14,4 auf 17,7 Prozent, die Quote strenger Armut von 7,9 auf 11,8 Prozent. Die obere Mitte bleibt stabil, die untere Mitte schrumpft – ein Hinweis darauf, dass ein Teil der Haushalte eher nach unten als nach oben wandert. Die Gruppe der Einkommensreichen bleibt dagegen weitgehend konstant, ebenso der Anteil der sehr Reichen.

Für Spannagel ist das das Ergebnis verschiedener Entwicklungen und politscher Entscheidungen: einer nachlassenden Umverteilungswirkung des Steuer- und Transfersystems, eines verfestigten Niedriglohnsektors, langfristigen Folgen der Arbeitsmarktpolitik der 2000er-Jahre und einer Serie von Krisen, die seit 2020 vor allem die unteren Einkommen - etwa durch Energie- und Lebensmittelpreise - belastet haben. Fluchtmigration verstärke einzelne Ausschläge, erkläre den Trend aber nicht: Klammert man den Anteil Geflüchteter in unteren Einkommensgruppen aus, geht der Trend in die gleiche Richtung wie im gesamten Datensatz.

Diese Zahlen zeigen nach Einschätzung der Autorin aber nur einen Teil der Realität: Extreme Armut (beispielsweise unter Wohnungslosen) taucht in Haushaltsbefragungen kaum auf, sehr hohe Einkommen - und insbesondere Vermögen - sind nur unzureichend abgebildet. Die tatsächliche Ungleichheit sei daher vermutlich noch größer, als die gemessene, mutmaßt Spannagel.

 

Vertrauensverlust und politischer Druck

Der WSI-Bericht widmet sich auch den politischen Folgen dieser materiellen Spaltung: Die Auswertung der Erwerbspersonenbefragung zeigt Unterschiede im Vertrauen in Polizei, Gerichte, öffentlich-rechtliche Medien und Bundesregierung in den verschiedenen Gruppen. Unter Menschen mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze geben rund 24 Prozent an, der Polizei kaum zu vertrauen; bei den Reichen liegt dieser Anteil unter neun Prozent. Noch größer ist die Distanz zur Bundesregierung: 61 Prozent der Armen äußern kaum Vertrauen, bei den Wohlhabenden ist es etwa die Hälfte. Ähnliche Muster finden sich beim Vertrauen in Gerichte und Medien.

Die Wissenschaft nennt dieses Phänomen „politische Deprivation“: Der Begriff beschreibt das Gefühl, politisch marginalisiert zu sein und nicht wirksam in demokratische Prozesse eingreifen zu können. Diese Wahrnehmung leiste antidemokratischen Einstellungen Vorschub und höhle das Vertrauen in demokratische Prozesse aus.

In diesem Klima gelinge es vor allem der AfD, sich als Gegenentwurf zu präsentieren und Menschen anzusprechen, die sich materiell benachteiligt und politisch nicht repräsentiert fühlen, erklärt Spannagel. Gleichzeitig zeigt die Auswertung, dass in den unteren Einkommensgruppen auch Die Linke und, in geringerem Maße, die SPD häufiger gewählt werden als in höheren Einkommensschichten. Mit zunehmendem Einkommen steigen dagegen die Stimmenanteile für Union, FDP und – auf niedrigerem Niveau – die Grünen.

Spannagel warnt vor einer „Brandbeschleuniger“-Wirkung wachsender Ungleichheit. Wenn wirtschaftliche Chancen und Krisenlasten dauerhaft so ungleich verteilt seien, drohe die soziale Marktwirtschaft ihre integrative Kraft zu verlieren - sie könne ihr zentrales Versprechen breiter Teilhabe nicht einlösen. Um gegenzusteuern, fordert sie mehr tarifgebundene und stabile Erwerbsarbeit, eine soziale Sicherung, die Teilhabe tatsächlich ermöglicht, und eine stärkere Besteuerung hoher Einkommen und auch Vermögen. Nur ein Staat, der handlungsfähig bleibe und sichtbar auch diejenigen stärker in die Pflicht nimmt, die finanziell am meisten profitieren, könne das wachsende Gefühl politischer Deprivation eindämmen, meint die Autorin.

 

Fragen an die Autorin

Anzeiger: Frau Dr. Spannagel, die deutsche Wirtschaft ist von 2010 bis 2022 gewachsen, im gleichen Zeitraum zeigen die verfügbaren Daten aber auch zunehmende Einkommensungleichheit. In Ihrem Bericht schreiben Sie, das liege unter anderem an weniger Umverteilung. Können Sie Beispiele für politische Entscheidungen der letzten zehn Jahre nennen, die dazu beigetragen haben?

 

Dr. Spannagel: Ein gutes Beispiel dafür ist die Entwicklung der ALG-II-Sätze („Hartz IV), die deutlich hinter den steigenden Löhnen dieser Jahre zurückgeblieben sind.

 

In ihrem Bericht schreiben Sie, dass die Menschen ihr eigenes Einkommen – besonders im Vergleich zu anderen – auch als Ergebnis politischer Entscheidungen betrachten und deshalb das Vertrauen in die Politik verlören. Stimmt das denn? Wie viel Einfluss hat die Politik wirklich auf die Einkommensungleichheit? Welche Rolle spielt die viel beschworene Eigenverantwortung?

 

Politik hat, im Zusammenspiel mit Wirtschaft und Gewerkschaften einen erheblichen Einfluss auf Ausmaß und Gestalt der Einkommensungleichheit. Sie setzt die Rahmenbedingungen, in denen Menschen ihre Eigenverantwortung wahrnehmen können. Ja, die Menschen sind natürlich auch verantwortlich für ihr Leben. Aber: Armen Menschen etwa werden bei ihrer freien Teilhabe systematisch eingeschränkt – und das aus strukturellen Gründen, nicht aus Mangel an Eigeninitiative.

 

Die Bundesregierung hat kürzlich den Entwurf ihres siebten Armuts- und Reichtumsberichts veröffentlicht. Darin heißt es: Auch die Einkommen am unteren Rand sind real – also inflationsbereinigt – gewachsen. Auch Haushalte in den unteren Einkommensklassen konnten sich 2020 mehr leisten als 2010. Also alles halb so wild? Was würden Sie entgegnen?

 

Es stimmt, dass die Einkommen auch am unteren Rand gestiegen sind. Allerdings eben oftmals nicht so stark wie in der Mitte oder am oberen Rand. Die Menschen in Armut haben in deutlich geringerem Ausmaß von dem Aufschwung und den steigenden Löhnen profitiert und das auch trotz des Mindestlohnes, der in diesen Jahren eingeführt wurden.


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