

Die Kreistagsfraktion der Linken im Landkreis Rotenburg (Wümme) will mit einem Antrag im Ausschuss für Soziales erreichen, dass die Kreisverwaltung ein Beratungsnetzwerk für Frauen aufbaut, die von weiblicher Genitalverstümmelung betroffen sind. Ziel sei es, Fachärzte, Hebammen, Beratungsstellen und weitere Institutionen des Landkreises in einer Facharbeitsgruppe zu bündeln. Zudem soll der Landkreis Mittel für mehrsprachige Informationsangebote und mögliche Fachtagungen bereitstellen.
Derzeit existieren keine konkreten Anlaufstellen für betroffene Frauen. Auch in Flüchtlingsunterkünften gebe es bislang keine Erstinformationen zum Thema. Das will die Linke ändern: „Keine Frau muss in Deutschland darunter leiden“, heißt es im Antrag.
Das Thema kam bereits 2019 auf. Die Koordinierungsstelle Migration und Teilhabe des Landeskreises hat dazu eine Fachtagung abgehalten. Dann kam Corona – und das Thema verschwand aus dem Fokus. „Bislang ist die Thematik nicht wiederbelebt worden“, kritisiert die Linksfraktion.
Weltweit verbreitetes Ritual
Weibliche Genitalverstümmelung (englisch: Female Genital Mutilation, kurz: FGM) ist eine schwere Menschenrechtsverletzung, bei der Teile des weiblichen Genitals entfernt, verletzt oder zerstört werden. Die Weltgesundheitsorganisation unterscheidet vier Formen, von der teilweisen Entfernung der Klitoris bis zur vollständigen Entfernung der äußeren Genitalien und dem anschließenden Zunähen der Wunde – die sogenannte Infibulation. FGM wird nach Angaben der Menschenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES traditionell in 32 Ländern Afrikas, auf der Arabischen Halbinsel sowie in Teilen Asiens und Südamerikas praktiziert. Durch Migration ist sie längst auch ein Thema in Europa.
Die schweren Folgen
Weltweit sind laut UNICEF über 230 Millionen Frauen und Mädchen betroffen. Die Eingriffe erfolgen meist ohne Betäubung, sind mit enormen Schmerzen verbunden und können tödlich enden. Bei der Verstümmelung werden unter hygienisch katastrophalen Zuständen Rasierklingen, Messer und Glasscherben verwendet. Zu den gesundheitlichen Folgen zählen Infektionen, chronische Schmerzen, Inkontinenz, Unfruchtbarkeit, Geburtskomplikationen, Angststörungen, Depressionen, eingeschränktes sexuelles Empfinden und schwere Traumata. Als Gründe gelten tief verwurzelte Traditionen, religiös begründete Vorstellungen von Reinheit, medizinische Mythen sowie soziale und ökonomische Zwänge. In vielen betroffenen Gemeinschaften ist eine unversehrte Frau kaum heiratsfähig.
Auch in Deutschland Realität
In Deutschland leben laut Dunkelzifferschätzung von TERRE DES FEMMES bis zu 104.000 bereits betroffene Frauen und Mädchen, rund 18.000 gelten als gefährdet. Das stellt sowohl das Gesundheitssystem als auch Sicherheitsbehörden vor erhebliche Herausforderungen: Fachärztinnen und -ärzte, Beratungsstellen und soziale Dienste seien häufig weder ausgebildet noch ausreichend sensibilisiert, um die Betroffenen angemessen zu versorgen. Mädchen aus geflüchteten Familien davor zu schützen, auf Reisen in ihr Heimatland Opfer von FGM zu werden, ist schwierig. Weibliche Genitalverstümmelung ist in Deutschland nach §?226a des Strafgesetzbuches strafbar, es drohen bis zu 15 Jahre Freiheitsstrafe. Das gilt auch, wenn die Tat im Ausland von deutschen Staatsangehörigen oder Menschen, die sich zur Tatzeit gewöhnlich im Land aufhalten, begangen wird - Beihilfe ist ebenfalls strafbar. Das heißt: Wenn beispielsweise eine deutsche Mutter ihre Tochter im Heimatland zur Verstümmelung bringt, kann sie dafür strafrechtlich verfolgt werden.
Keine Strukturen zu FGM im Kreis Osterholz
Während das Thema FGM vor der Pandemie im Landkreis Rotenburg bereits aufkam, hat sich die Kreisverwaltung im benachbarten Landkreis Osterholz bislang nach eigenen Angaben nicht damit beschäftigt. Auf Anfrage teilt Pressesprecherin Sabine Schäfer mit, dass es „keine speziellen Beratungsangebote für von FGM betroffene Frauen“ gebe. Entsprechende Anfragen würden an behandelnde Gynäkologen oder an Pro Familia in Bremen verwiesen. Konkrete Fälle seien der Kreisverwaltung bislang auch nicht bekannt - das gelte auch für das Kreiskrankenhaus in Osterholz-Scharmbeck. „Sollte sich eine Frau mit einer Genitalverstümmlung für eine Geburt im Kreiskrankenhaus entscheiden, entscheidet der Gynäkologe, ob eine Geburt auf normalem Weg möglich ist oder ob eine Sectio durchgeführt werden muss“, teilt Sabine Schäfer mit.
Chefärztin in Rotenburg hat Erfahrung
Im medizinischen Bereich wird das Tabuthema FGM in Deutschland sichtbar: Ärzte und Pflegepersonal sehen sich insbesondere im Kontext von Geburten damit konfrontiert. Der Umgang mit betroffenen Frauen - unter Zeitdruck und teilweise ohne kultursensible Fortbildung - ist eine Herausforderung. Im Agaplesion Diakonieklinikum in Rotenburg stellt sich ihr Dr. Karen Wimmer-Freys. Die Chefärztin der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe habe Expertise und Erfahrung sowohl in der plastischen (Teil-)Rekonstruktion des weiblichen Genitals als auch in der Geburtshilfe dieser Patientinnen, wie der theologische Direktor Lars Wißmann mitteilt. Die Schulung des Teams erfolge bislang über Ad-hoc-Formate im Rahmen der Behandlung sowie durch Fortbildungsbesuche einzelner Mitarbeiterinnen. Eine vorgeburtliche Vorstellung der Patientinnen sei ein sinnvoller Weg, um Komplikationen rechtzeitig zu erkennen und Versorgungswege zu klären. Für Wimmer-Freys ist die medizinische Versorgung mehr als nur Pflicht: „Das ist auch ein deutliches Bekenntnis gegen jede Form der Gewalt und Verletzung von Menschen und Menschenrechten, ohne zugleich den Respekt vor kulturellen Prägungen aufzugeben.“
Das Thema stärker im Klinikalltag integrieren
Auch in der OsteMed Klinik in Bremervörde ist weibliche Genitalverstümmelung ein Thema. „Das medizinische Fachpersonal, insbesondere in der Geburtshilfe und Gynäkologie, ist grundsätzlich für die Problematik sensibilisiert“, erklärt Pflegedirektorin Dagmar Michaelis. Bei Verdachtsfällen oder bekannten FGM-Betroffenen werde individuell und mit Rücksicht auf die medizinischen und psychosozialen Bedürfnisse der Patientin gehandelt. Der respektvolle Umgang stehe dabei ebenso im Fokus wie eine optimale medizinische Versorgung. Fortbildungsangebote zu kulturell sensibler Versorgung und spezifischen Themen wie FGM würden regelmäßig wahrgenommen – unter anderem über externe Fachveranstaltungen oder Online-Schulungen. Mitarbeitende könnten zudem auf medizinische Leitlinien und Handlungsempfehlungen zurückgreifen, etwa von der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) oder der Weltgesundheitsorganisation. „Wir sehen weiterhin Bedarf, das Thema durch gezielte Fortbildungen, insbesondere für Pflegekräfte und Hebammen, noch stärker in den klinischen Alltag zu integrieren“, sagt Michaelis.
Flüchtlingsrat: Initiative trifft auf Zustimmung
Beim Flüchtlingsrat Niedersachsen stößt der Antrag der Rotenburger Linken auf Zustimmung. Zwar sei die Zahl der in Niedersachsen lebenden betroffenen Frauen mit schätzungsweise 6.000 bis 8.000 im Vergleich zur weltweiten Dimension relativ klein. Dennoch sei sie groß genug, um das Thema nicht zu ignorieren. Neben regionaler Aufklärungs- und Beratungsarbeit fordert Geschäftsführer Kai Weber einen sogenannten „Schutzbrief“ nach Hamburger Vorbild, der Mädchen präventiv vor FGM schützen soll. Außerdem brauche es regelmäßige interdisziplinäre Fortbildungen für Fachkräfte – nicht nur der Medizin, sondern ebenso in der Verwaltung und Schulen, um in diesen Bereichen rechtssicher handeln zu können.