Tatort Kirche
Niedersachsen. Die aktuelle Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche widerlegt den Mythos von der „besseren“ Kirche und zeigt gleichzeitig ein massives Aufarbeitungsproblem auf, dem sich auch lokale Kirchenvertreter:innen stellen müssen.
In Gemeindehäusern, Kirchengebäuden, Pfarrbüros, in öffentlichen Schwimmbädern oder im privaten Pfarrhaus sind in der Vergangenheit immer wieder und über teilweise jahrelange Zeiträume Kinder und Jugendliche Opfer von sexualisierter Gewalt durch Mitarbeitende der evangelischen Kirche geworden. Die meisten Täter waren verheiratete Männer um die 40.
Insgesamt wurden im Rahmen der Ende Januar vorgestellten ForuM-Studie „Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland“ Disziplinarakten von 1.259 Beschuldigten und insgesamt 2.225 Fälle ausgewertet. Die Wissenschaftler:innen kritisierten in diesem Zusammenhang, dass sie nicht die Personalakten aller Pfarrer und Diakone auswerten konnten. Sie sehen die Ergebnisse der Studie, die von der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und ihren 20 Landeskirchen ausgeschrieben und finanziert wurde, deshalb nur als „Spitze des Eisbergs“.
Mindestens 140 Betroffene in der Landeskirche
Anhand der von der Landeskirche Hannover zur Verfügung gestellten Daten ergeben sich für die Landeskirche Hannover 110 Fälle sexualisierter Gewalt mit 110 beschuldigten Personen und mindestens 140 betroffenen Personen, die zum Tatzeitpunkt minderjährig gewesen sind. Unter den 110 Beschuldigten sind 62 Pastoren. Alle Fälle, in denen die beschuldigten Personen noch leben, habe die Landeskirche laut Landesbischof Ralf Meister den Staatsanwaltschaften vorgelegt.
Seit der Datenübergabe an den Forschungsverbund seien in der Landeskirche noch weitere zwölf Fälle aus dem Bereich der sexualisierten Gewalt bekannt geworden. Insgesamt seien der Landeskirche aktuell 122 bestätigte Fälle oder Verdachtsfälle auf sexualisierte Gewalt bekannt. Unter den beschuldigten Personen seien 63 männliche Pastoren. Es sei klar, dass es sich hier nur um einen Ausschnitt davon handele, wie viele Menschen seit 1945 in der Landeskirche sexualisierte Gewalt erlitten hätten, so Meister.
Falsches Selbstbild und Streben nach Harmonie
Die Studie widerlegt damit das Selbstverständnis der evangelischen Kirche, dass sexualisierte Gewalt nur in Einzelfällen vorkomme und vorrangig ein systemisches Problem innerhalb der katholischen Kirche mit ihren „Risikofaktoren“ wie Zölibat, Sexualmoral und hierarchischen Strukturen sei, heißt es in dem rund 800 Seiten umfassenden Papier. Die Rede ist von einem „evangelischen Modus der Selbstüberhöhung, der implizit oder explizit ein ‚Besser-Sein‘ im Vergleich zu anderen Glaubensrichtungen suggeriert. Dazu gehört eine grundsätzliche Atmosphäre der Geborgenheit und Sicherheit, in der das Verüben von sexualisierter Gewalt als nicht möglich konstruiert wird.“
Doch gerade dieses Image der evangelischen Kirche und die positive Außenwahrnehmung könne sexualisierte Gewalt fördern und Beschuldigte schützen. Die Kirche inszeniere sich hier als Helferin, in dem Tätern vergeben werde, um sie in die Kirche zu reintegrieren. Sie strebe zudem nach Harmonie, um die Gemeinde zu schützen, anstatt die Fähigkeit zu entwickeln, mit nicht lösbaren Konflikten umzugehen. Schuld als nicht prinzipiell auflösbarer Zustand könne offenbar im evangelischen Selbstverständnis nicht ausgehalten werden.
Mit Betroffenen zu Entscheidungen kommen
„Die Aussage, die bessere Kirche sein zu wollen, ist mir fremd“, entgegnet Superintendentin Jutta Rühlemann aus Osterholz-Scharmbeck. „In den vergangenen Jahren haben wir in der evangelischen Kirche sehr um das Thema ‚Sexualisierte Gewalt‘ gerungen.“ In letzter Konsequenz habe dies zur Beauftragung der vorliegenden Studie geführt, die wichtige Empfehlungen beinhalte, was in der Kirche verändert werden müsse, um sexualisierte Gewalt zu verhindern. Richtig sei, dass in der Vergangenheit und auch heute noch sexualisierte Gewalt in der Kirche nicht so thematisiert wurde und werde, wie das notwendig sei. Man müsse sich die erschütternden Ergebnisse jetzt sorgfältig anschauen und dann in Zusammenarbeit mit Betroffenen zu Entscheidungen kommen.
„Leider war in vielen Fällen die Kirche kein Schutzraum oder Zufluchtsort, ganz im Gegenteil“, sagt Rühlemann. Es sei furchtbar, dass sexualisierte Gewalt nicht verhindert oder geahndet worden sei und dass man Betroffenen nicht zugehört habe. „Aber das, was die Täter getan haben, ist nicht unsere Kirche insgesamt. Viele Menschen haben Kirche wirklich als einen Ort erlebt, der ihnen Halt und Trost und Gemeinschaft gibt.“
Die Ergebnisse zeigten, dass der Weg von Prävention, Intervention und Aufarbeitung, den die evangelische Kirche seit über zehn Jahren gehe, der richtige sei. Seit vielen Jahren würden beruflich und ehrenamtlich Tätige in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aufmerksam geschult und begleitet. In den Kindertagesstätten seien Schutzkonzepte wesentlicher Teil des Qualitätsmanagements. In den Gemeinden und Einrichtungen des Kirchenkreises werde derzeit an der Erstellung von Schutzkonzepten gearbeitet. In der Landeskirche gebe es zudem seit 2012 eine Ansprechstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt, die in den letzten Jahren zu einer „Fachstelle Sexualisierte Gewalt“ erweitert worden ist. Entscheidend für Prävention und Aufarbeitung werde künftig sein, intensiv mit Betroffenen zusammenzuarbeiten. Das sei bisher viel zu wenig geschehen, so die Superintendentin.
Unempathisch und Unprofessionell
Katharina Kracht, Sprecherin der Betroffenenvertretung im Beteiligungsforum der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aus Bremen kritisiert in einem Interview mit dem Weser Kurier unterdessen, dass die Mitarbeitenden der sogenannten Fachstellen oft überfordert seien und Betroffene sich unempathisch und unprofessionell behandelt fühlten. Zudem gebe es nur dann Aufarbeitungsprozesse, wenn Betroffene sie selbst anstoßen.
Dass die Aufarbeitung innerhalb der evangelischen Kirche in weiten Teilen fehle und viel zu schleppend verlaufe, sei ein Skandal, sagt Superintendent Carsten Stock aus dem Kirchenkreis Bremervörde-Zeven. Genau wie die Tatsache, dass Vertrauen insbesondere von Schutzbefohlenen missbraucht wurde.
Inwiefern das offensichtlich problematische Selbstbild der evangelischen Kirche oder ihr Harmoniezwang bei den Taten eine Rolle spielen könnten, lässt er allerdings unbeantwortet. Er setze sich dafür ein, dass die Gemeinden und Einrichtungen des Kirchenkreises geschützte Orte seien und betont, dass auf der Tagesordnung der Kirchenkreissynode am 28. Februar der Beschluss eines Schutzkonzeptes zur Prävention gegen sexualisierte Gewalt stehe.
Bleibt zu hoffen, dass solche Konzepte dann auch ihren Zweck erfüllen. Denn das Risiko, dass junge Menschen auch aktuell in der evangelischen Kirche und Diakonie sexualisierte Gewalt erfahren, wird von Betroffenen laut der Studie als sehr hoch eingeschätzt.
Katharina Kracht fordert deshalb unter anderem ein genaues Hinschauen von Gesellschaft und Politik sowie die Entwicklung von Kontrollfunktionen und eines Monitorings.