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Sechs Wochen in der Hölle

In geschlossenen Einrichtungen erleben Kinder oft Gewalt. Das gilt auch für die Verschickungsheime in Westdeutschland.

Das Adolfinenheim auf Borkum war eins von rund 1000 Verschickungsheimen in Westdeutschland. Eine neue Studie berichtet von Missbrauchsfällen.

Das Adolfinenheim auf Borkum war eins von rund 1000 Verschickungsheimen in Westdeutschland. Eine neue Studie berichtet von Missbrauchsfällen.

„Sechs Wochen in der Hölle“ - so beschreiben einige Betroffene ihren Aufenthalt in einer der zahlreichen Kinderheilstätten der Nachkriegszeit, zum Beispiel auf der Nordseeinsel Borkum oder im Harz. 1963 gab es in Westdeutschland 839 Einrichtungen dieser Art in Trägerschaft der Diakonie, des Roten Kreuzes, der Caritas, der Krankenkassen und Städte. Schätzungen gehen von 3 bis 12 Millionen Kindern aus, die diese besucht haben.

Eigentlich sollten die mehrwöchigen Kuren am Meer oder in den Bergen der Erholung und Genesung der Zwei- bis Zwölfjährigen dienen. Zur Kur geschickt wurden die Kinder etwa, weil sie Asthma oder andere Krankheiten hatten, zu dünn oder zu blass waren, manchmal auch ohne erkennbaren Grund. Verordnet werden konnte die Verschickung vom Kinderarzt, bezahlt haben die Krankenkassen.

 

Demütigung und Gewalt

 

Auch wenn nicht alle Verschickungskinder traumatisierende Erfahrungen gemacht haben, war der Aufenthalt in den Heimen mehrheitlich nicht sehr erholsam: Aus rund 1000 Erfahrungsberichten, die der Südwestrundfunk (SWR) im Rahmen einer Studie sammelte, geht hervor, dass 94 Prozent der Kurkinder ihre Verschickung als von Demütigung und Gewalt geprägt erlebt haben.

Die Autorin Anja Röhl ging mit ihren Erlebnissen als Verschickungskind 2009 an die Öffentlichkeit und erhielt daraufhin zahllose Zuschriften von anderen Betroffenen. Fast alle Schilderungen lauten ähnlich: Die Kinder mussten ihr Essen gegen ihren Willen herunterwürgen, teilweise wurden sie gezwungen. ihr eigenes Erbrochenes zu essen. Sie wurden geschlagen und vor der ganzen Gruppe gedemütigt. Insgesamt herrschte ein Klima der Angst, die Erzieherinnen drohten den Kindern, zu Hause nicht über das Erlebte zu sprechen. Post von den Eltern wurde zurückgehalten, selbst geschriebene Briefe entweder zensiert oder nicht abgeschickt. Fälle schweren sexuellen Missbrauchs sind ebenso bekannt wie Medikamentenversuche an den Kindern.

Jörg A.* wurde 1975 als Fünfjähriger nach Langeoogg verschickt. Er bestätigt, dass die Kur alles andere als angenehme war - auch wenn er selbst keine körperliche Gewalt erfahren habe. „Ich kann mich an nichts Schönes erinnern“, sagt der 53-Jährige, „der Ton war wie in einer Kaserne.“ Er sei ein sensibles Kind gewesen und wegen Allergien und Asthma zur Kur geschickt worden. „Ich hasste Tomaten, aber es musste alles gegessen werden, was auf dem Tisch lag. Also warf ich die Tomate unter den Tisch. Nach dem Essen wurde ich über die Sprechanlage in den Essensaal gerufen und ich musste die zermatschte Tomate vom Boden essen“, erinnert sich A. Dass Briefe der Eltern den Kindern vorenthalten wurden, kann er ebenfalls bestätigen.

 

Studien decken immer mehr Fälle auf

 

Trotz seiner eigenen Erfahrung sei er überrascht gewesen, als er erfuhr, wie viele andere Verschickungskinder schreckliches Leid erleben mussten, sagt A. heute. Bis auf Berichte und eigene Recherchen von Betroffenen wie Anja Röhl und Jörg A., die sich mitunter auch in Online-Foren ausgetauscht haben, war über die systematische Misshandlung von Kindern in Verschickungsheimen bis vor Kurzem noch wenig bekannt. Die Autorin hielt 2019 einen Fachkongress zum Thema ab, gründete mit Wissenschaftlern die Initiative Verschickungskinder und veröffentlichte das Buch „Das Elend der Verschickungskinder“ in Zusammenarbeit mit der Bundeszentrale für politische Bildung. Inzwischen liegen mehrere Studien und Veröffentlichungen zum Thema vor. Jüngst gaben das Diakonische Werk Bremen und die Bremische Evangelische Kirche eine Studie über das „Aldofinenheim“ auf Borkum in Auftrag.

 

Euthanasie-Ärzte in Kurheimen

 

Darin wird die gleiche Gewalt beschrieben, von der Betroffene Anja Röhl seit nunmehr 15 Jahren berichten. „Die Umgangsformen des klinischen Personals, also der Schwestern, Kindergärtnerinnen, Kinderpflegerinnen und Kurärzte, mit den Kindern müssen eine einheitliche ideologische und Mentalitätsgrundlage gehabt haben“, vermutet die Autorin. „Es war nicht nur einfach ein strenges und liebloses Regime, das dort zufällig geherrscht hätte, es wiederholen sich in allen Berichten immer wieder bestimmte Handlungen und Drohungen. Sie wiederholen sich in Heimberichten aus weit voneinander entfernt liegenden Heimen, sie müssen aufgrund von gemeinsamen Erziehungsvorstellungen, von Empfehlungen bis hin zu Direktiven vorgenommen worden sein“, so Röhl.

Ihre These: Die „erzieherischen“ Methoden in den Verschickungsheimen stammten mehr oder weniger direkt aus der Zeit des Nationalsozialismus. Dafür sprächen einige Indizien. Die sogenannte Kinderlandverschickung gab es bereits in der Weimarer Republik, sie wurde im Dritten Reich fortgeführt. Während des Zweiten Weltkrieges dienten die Heime auch als Evakuierungsort für Kinder und Jugendliche aus Städten, die bombardiert wurden. Die Heime hatten den Charakter eines Lagers und sollten den Kindern Ordnung, Disziplin und Gehorsam beibringen. Unterwerfungsrituale und Wehrertüchtigung waren an der Tagesordnung. Weder die pädagogischen Vorstellungen der Nationalsozialisten noch das entsprechende Personal verschwanden mit der Kapitulation Deutschlands: NS-Pädagogen, Euthanasie-Ärzte und ehemalige Mitglieder der SS übernahmen die Leitungen der Kureinrichtungen.

 

*vollständiger Name der Redaktion bekannt


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