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Lügen und Scheinargumente

Osterholz-Scharmbeck (jm). Philosophie-Professor Markus Tiedemann sprach in der IGS über Geschichtsverfälschung.

Professor Markus Tiedemann erklärte in seinem Vortrag vor Schüler:innen der IGS Erscheinungsformen und Strategien des Geschichtsrevisionismus. Foto: jm

Professor Markus Tiedemann erklärte in seinem Vortrag vor Schüler:innen der IGS Erscheinungsformen und Strategien des Geschichtsrevisionismus. Foto: jm

Bild: Joerg Monsees

Zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust beschäftigen sich die Schüler:innen der Integrierten Gesamtschule (IGS) jedes Jahr mit den Verbrechen der Nationalsozialistinnen. Vergangene Woche war der Philosoph Prof. Dr. Markus Tiedemann zu einem Vortrag in der Schule zu Gast.

„Steven Spielberg ist so ein guter Regisseur, der kann dir jede Geschichte erzählen!“ Die kleine Gruppenübung zum Einstieg in Professor Markus Tiedemanns Vortrag fängt harmlos an. Die Szene - eine Gruppe Schüler:innen hat gerade „Schindlers Liste“ im Unterricht gesehen und spricht danach über den Film - wird schnell immer absurder. Kaum sind ein paar Minuten vergangen, erklärt Tiedemann, der in diesem Fall einen rechtsextremen Mitschüler spielt, dass das Ungeziefer-Vernichtungsmittel Zyklon B erst bei 26 Grad Celsius gasförmig wird. Deshalb sei es bei einer Durchschnittstemperatur von 6 bis 8 Grad physikalisch gar nicht möglich gewesen, das Gift im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau zu benutzen, um Menschen zu töten.

Das ist natürlich eine Lüge, unterfüttert mit Scheinargumenten - eine beliebte Strategie unter Geschichtsrevisionistinnen, wie Tiedemann im weiteren Verlauf des Vortrags erklärt. Pfercht man, wie die Nazis es taten, eine Vielzahl von verängstigten, hyperventilierenden Menschen auf engstem Raum zusammen, steigt die Temperatur entsprechend schnell und das Gift verändert seinen Aggregatzustand. Weitere immer wieder gestreute Falschbehauptungen über den Massenmord im Zweiten Weltkrieg - Irrtümer sind es nicht, denn sie werden bewusst verbreitet - lassen sich auf ähnliche Weise widerlegen.

 

„Trotzdem widersprechen“

 

Manchmal ist das allerdings recht aufwändig, erfordert Recherche und detaillierte Fachkenntnisse. Die haben viele von uns - die etwas überrumpelten Schüler:innen während des Rollenspiels eingeschlossen - nicht unbedingt aus dem Stegreif parat. Professor Tiedemann rät: Trotzdem widersprechen. „Ich glaube, dass alles was du gerade gesagt hast, falsch ist“ - denn wer schweigt, vermittele möglicherweise den Eindruck zuzustimmen und das sei fatal.

Beim Widerspruch gehe es auch nicht gar nicht darum, die Fürsprecher:innen geschichtsrevisionistischer oder sonstwie dämlicher Thesen zu überzeugen („Mit Radikalen zu diskutieren bereitet ungefährt so viel Freude, wie mit einer Betonwand“). Es geht um das Auditorium - die Zuhörer:innen, die ein solches Gespräch eventuell ebenfalls schweigend mitverfolgen. Auf ein Einzelgespräch mit Rechtsextremen würde er sich nie einlassen, sagt Tiedemann. Zeitverschwendung. „Aber sobald Leute das mitbekommen, widerspreche ich. Auch wenn ich vielleicht gerade nicht die passenden Argumente habe. Wenn drei Leute um uns herum stehen und einer davon ist noch zu retten, dann hat es sich gelohnt“, sagt der Philosophie-Professor.

 

Linke und Rechte im Identitätswahn

 

Die Themen Rechtsextremismus und Holocaust-Leugnung lassen den gebürtigen Hamburger seit den 90er-Jahren, als er als junger Geschichtsstudent in einem Seminar plötzlich und völlig unvorbereitet mit hartnäckigem Revisionismus konfrontiert wurde, nicht mehr los. Ein weiteres Thema, das ihn aktuell umtreibt, riss Tiedemann im zweiten Teil seines Vortrags noch an: Identitätswahn. Den beobachtet der Professor der Technischen Universität Dresden sowohl im linken als auch im rechten Lager. Wo linke Intellektuelle Menschen ebenso in Schubladen („schwarze Opfer“, „weiße Täter“) steckten wie die Identitäre Bewegung, spricht Tiedemann vom „Rassismus der Antirassisten“. „Meine Nichte möchte sicht nicht ihr Leben lang als Opfer sehen. Und sie möchte mir nicht als Täter begegnen, sonder einfach als ihr Onkel“, sagt der Philosoph. Über die Konsequenzen, die man hieraus auch für den alltäglichen und nicht-alltäglichen Sprachgebrauch ziehen sollte, gab es kontroverse Diskussionen, die vom Referenten auch explizit erwünscht waren. Abschließend ließen sich diese Fragen an einem Vormittag in der Mehrzweckhalle der IGS nicht klären - das wird eine Aufgabe für die kommenden Jahre sein.


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