Seitenlogo
Patrick Viol

Kommentar: Verteidigung der Öffentlichkeit geht anders

Selbsternannte Verteidiger*innen der Öffentlichkeit erheben den Vowurf, eine "Cancel Culture" untergrabe die Meinungs- und Kunstfreiheit. 
Der Kommentar  der Woche verteidigt die Öffentlichkeit gegen ihre Verteidiger.
Gibt es eine sogenannte "Cancel Culture"?

Gibt es eine sogenannte "Cancel Culture"?

Haben Sie auch schon von der „Cancel Culture“ gehört? Falls nicht: Hinter dem Begriff steht die Annahme bzw. der Vorwurf, Linksliberale hätten in der Öffentlichkeit die Macht, Personen an öffentlichen Auftritten zu hindern oder gleich arbeitslos zu machen, sollten sie politisch nicht ganz korrekt sein. Sprich wahlweise rassistisches oder sexistisches Zeugs von sich geben. Deshalb waberte der Begriff auch in der Debatte um die Ausladung der österreichischen Kabarettistin Lisa Eckhart vom Literaturfestival Harbourfront herum. Kritiker*innen werfen ihr vor, antisemitische Klischees zu bedienen.
Es soll hier aber nicht um Eckhart gehen, sondern darum, was an der Vorstellung problematisch ist, es gäbe eine linksliberale Schaltzentrale, die über Jobs und Auftritten von Menschen wacht, und Menschen absägt, wenn sie den sogenannten Wächtern der Political Correctness nicht in den Kram passen. Oder anders ausgedrückt: Was ist das Problem an der Vorstellung, die Meinungsfreiheit werde durch eine linksliberale, mit Shitstorm-Pistolen bewaffnete Gesinnungsmacht eingeschränkt? Muss man wirklich Angst davor haben, „das Falsche zu sagen“, oder gar seine „Meinung frei zu äußern“, wie es laut der Allensbach-Studie vom Ende letzten Jahres 60 Prozent der Deutschen empfinden? Schauen wir uns noch ein Mal das Ein- und Ausladespektakel von Lisa Eckhart an. Hier stellte sich heraus, dass niemand die Veranstalter*innen durch Androhung von Gewalt dazu zwang, die Künstler*in auszuladen. Das aber hatten viele Kommentator*innen in einschlägigen Zeitungen behauptet. Um auch hierzulande eine „Cancel Culture“ eines „linken Mobs“, eine grassierende Gefährdung der Meinungs- und Kunstfreiheit behaupten zu können. Es waren aber nur Nachbarn des Veranstalters, die Bedenken bezüglich Eckharts anmeldeten. Dass ihre Sketche eventuell Kritik und Widerstand mobilisieren könnten.
Die an diesem konkreten Fall aufscheinende Gleichung: Auftritt einer Künstlerin führt möglicherweise zu Kritik = Einschränkung der Meinungsfreiheit, zeigt modellhaft das Problem an der Vorstellung, es existierte eine wild gewordene Verbotsinstanz, vor der niemand mehr sicher sei. Wer nämlich die Möglichkeit, dass das, was man selbst für gut und richtig hält, auf Kritik stößt, als Einschränkung der Meinungsfreiheit erfährt, hat das Prinzip Meinungsfreiheit immer schon mit Unantastbarkeit des eigenen Selbst verwechselt. Meinungsfreiheit heißt nicht, dass die eigene Meinung frei von Kritik durch das Urteil anderer ist. Sie bietet die Grundlage für den Streit ums bessere Argument und erfordert, Widerspruch auszuhalten. So erweist sich der Vorwurf der „Cancel Culture“ - entgegen seiner Intention, eine liberale Öffentlichkeit zu verteidigen - in Deutschland als Ausdruck einer fortwesenden antiliberalen Haltung. Als ideologischer Reflex dagegen, dass die Öffentlichkeit nicht als Bestätigungsspiegel des eigenen Selbst dient.
Und damit dient der Vorwurf „Cancel Culture“ mitnichten als eine ernst zu nehmende Kritik an linksliberalen Dauerempörten. Dabei wäre eine solche dringend geboten: Denn das mit der Meinungsfreiheit und der Öffentlichkeit als Raum für Streit um die Sache und Reflexion des eigenen Selbst haben sie ebenso wenig verstanden. Antirassist*innen z. B., die jede Kritik am Islam pauschal als rassistisch verurteilen, verweigern sich ebenso dem Denken wie jene, die meinen, alle Migranten seien Islamisten. Eine mächtige Verbotsinstanz sind sie deshalb aber noch nicht.


UNTERNEHMEN DER REGION