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Patrick Viol

Kommentar: Solidarität statt Pseudoaktivität

Chefredakteur Patrick Viol erklärt, was sein aufgebrezelter REWE Einkauf über die Homeoffice-Verordnung offenbart.

Bild: Anja Kalski

Gestern Abend habe ich mich tatsächlich geduscht. Den Bart in Form geföhnt. Eine Weste über den Pullover geworfen und sogar die guten Schuhe angezogen. Ich sah gut aus. Weil ich zu REWE etwas einkaufen ging. Weil ich seit fünf Tagen nicht mehr draußen und schon lange kein Plus 1, das meine WG besuchen dürfte, da war. Weil ich seit Dezember im Homeoffice stecke und sich alles wiederholt. Die Tätigkeiten und Gesichter meiner WG und der kleinen Kohorte um sie herum. Alles hübsche, liebe und interessante Menschen, keine Frage. Aber alles in Wiederholung begriffen. Die gibt es sonst auch, klar. Aber durchbrochen von aufregenden Begegnungen mit Fremden oder Kolleg:innen, mit denen man ein anderer als mit Freund:innen ist. Allein schon deshalb, weil man Hosen trägt. Mein Homeoffice-Dresscode ist seit Wochen nur noch eine Sport- und Schlafklamotten-Mixtur.
Da löste das gestrige Aufbrezeln fast dieselbe Vorfreude aus, die sonst der Barbesuch bereitet. Da klang das: „37Euro90, bitte“ schon wie ein Flirtversuch des Kassierers.
Und vielleicht ergeht es den politischen Entscheidungsträger:innen ja gerade ganz ähnlich wie mir. Vielleicht sind sie ja auch in einem Trott erschlagender Wiederholungen gefangen und verwechseln - wie ich die Ansage einer Warenkorbsumme mit einem Flirtversuch - eine halbgar umgesetzte Idee wie die Homeoffice-Verordnung mit einer guten Entscheidung zur rechten Zeit. Nur weil sie etwas anders ist, als die anderen schlechten und halbgaren Entscheidungen, die man sonst die ganze Zeit wiederholend trifft. Vielleicht ist es ja sogar so, dass Politiker:innen uneingestanden davon überzeugt sind, dass das, was vernünftigerweise zu tun wäre, praktisch einfach nicht möglich ist. Wegen der Wirtschaft und so. Warum sollte man sonst nicht-notwendige Produktionszweige nicht runterfahren? Und vielleicht ist es ja gerade diese verdrängte - gesellschaftlich erzeugte - Überzeugung, die dazu führt, dass Politiker:innen halbgare bis sinnlose Entscheidungen permanent überbewerten. Vielleicht sind sie einfach aus ideologischer Ohnmacht heraus zu Pseudoaktivität verdammt?
Jedenfalls kommt die Homeoffice-Verordnung viel zu spät. Arbeitgeber:innen hätte man viel früher dazu verpflichten sollen, Homeofficemöglichkeiten einzurichten und nicht zu einer Zeit, wo Angestellte - nachvollziehbar - kein Bock mehr auf Homeoffice haben. Während man andererseits Homeoffice für Kontrolleur:innen für Arbeitsschutz z. B. auf Baustellen nicht nur hätte unterbinden sollen. Von ihnen hätte man sogar mehr beschäftigen sollen. Damit man zumindest diejenigen umfassend schützt, von denen man aus ökonomischen Gründen meint, sie weiterarbeiten lassen zu müssen.
Was aber jetzt im Einzelnen machen? Solidarisch mit allen sein, die arbeiten und Kinder hüten müssen. Das hieße - wie in meinem kinderlosen Schreibtischarbeitsfall -, einfach stumpf zu Hause zu bleiben. Egal wie langweilig es ist. Damit mehr freier Platz in der Firma ist und eine ausgelaugte Kollegin mit Kindern - so bitter es ist - mal bei der Arbeit vor Ort durchatmen kann. Oder auch: Sich zu fragen, ob ich die Kitanotbetreuung wirklich brauche oder nicht lieber verzichte, damit genug Platz in der Kita für Kinder z. B. von Reinigungskräften und Bauarbeiter:innen ist.


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