Patrick Viol

Kommentar: Skateboards gegen Huberts

Patrick Viol kritisiert, dass Wettkämpfe und abstrakte Leistungsbewertungen die Schule in einen gefährlichen Selbstwiderspruch von Sein und Sollen verwickeln.

Mit einem Kickflip raus aus der bürgerlichen Kälte.

Mit einem Kickflip raus aus der bürgerlichen Kälte.

Bild: Freepik/dgim-studio

Ich habe mein ganzes Leben Sport getrieben: Tennis und Fußball in Vereinen, darauf folgte mit 12 das Skateboard. Dann kam eine kurze Unterbrechung mit 15, mit den Philosophiebüchern und Zigaretten. Letztere blieben bis 19, seither geh ich pumpen und fahre gerne Rennrad. Sport war für mich nie eine Nebensache. Selbst den meisten Sportunterricht, außer während der Zeit als Rauchen mein Hobby war, fand ich super. Aber ganz ehrlich: die Bundesjugendspiele? Fand ich schon immer scheiße. Geräteturnen ging ja noch, darin liegt ja noch eine gewisse Ästhetik und individueller Ausdruck. Aber Leichtathletik? Dieser dumpfe, körperliche Fähigkeiten bloß quantitativ vergleichende Wettkampf zur Sortierung jungen Menschenmaterials war mir zuwider. Man wird wie Autos verglichen.

Es gibt eine Erinnerung in mir, die, wenn ich an die Bundesjugendspiele denke, sofort auftaucht und sich anfühlt, als wäre es gestern gewesen. Meine damalige Freundin Rebekka war beim Weitwurf an der Reihe. Von drei Würfen landeten drei vor ihren Füßen. Ich fand es damals sehr traurig und sie tat mir leid. Und von diesem Gefühl liegt noch immer etwas in der Erinnerung. Diese Nachhaltigkeit des Schmerzes - es war wohl - ohne dass ich damals einen Begriff davon hatte - eine frühe Begegnung mit der abstrakten Gewalt und der Kälte unserer widersprüchlichen Gesellschaft, der man sein Leben lang ohnmächtig gegenüber steht: Vor ihrem (Wert-)Gesetz sind wir alle gleich, weil wir aber alle unterschiedliche Bedingungen mitbringen, werden wir durch die Gleichbehandlung zu Ungleichen. Sportlicher Wettkampf ist eine Einübung darin. Er war schon immer eine Form der Disziplinierung und Anpassung der Subjekte an die Gesellschaft. Nicht umsonst wird er vor allem in autokratischen Gesellschaften umfassend organisiert; nicht ohne Grund stammt der NS auch aus der spinnert-sportiven Lebensreformbewegung.

„Natürlich“ ist am sportlichen Wettkampf hingegen gar nichts. Man hält ihn nur dafür, weil man in einer Gesellschaft lebt, die ihre „Naturhaftigkeit“ nicht abgelegt hat, und die meisten dazu zwingt, sich wie Affen um die letzte Banane zu hauen. Deswegen ist die FDP in Anbetracht der ihr offensichtlich unbekannten Regeländerung der Bundesjugendspiele, die auf die Reichsjugendwettkämpfe der Nazis zurückgehen, so besorgt. Aber ich kann sie beruhigen: Kinder erfahren in der Schule genug Niederlagen. Abstrakte Leistungsbewertung ist hier Alltag. Tränen und Versagen auch.

Und ja, es ist wichtig, dass Kinder den Umgang mit Niederlagen lernen. Wer sie pädagogisch lediglich einkuschelt, entlässt sie in eine Welt, die sie dann nur umso leichter brechen wird. Nicht notwendig und fatal hingegen ist, dass sie den Umgang mit Niederlagen über das Scheitern an abstrakten Wettkämpfen und Leistungsüberprüfungen lernen sollen.

Denn damit, und das übersehen jene, die den Wettkampf für seine in der Tat auch vorhandene Zivilisierungsfunktion verteidigen, gerät die Praxis der Schule in einen Widerspruch zur ihrer Norm, eine Institution der Gerechtigkeit zu sein, die Kindern durch Rücksicht auf ihre individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse sich entwickeln hilft. - Abstrakte Gleichbehandlung resultiert in Ungerechtigkeit. Aufgrund dieses Widerspruchs von Sein und Sollen erfahren jene, die deswegen schlecht abschneiden, sich als Opfer, die es hier eigentlich nicht geben darf. Der Umgang damit unter Opfern, aber auch Siegern ist eine Desensibilisierung dem Widersprich gegenüber: eine Zueignung „bürgerlicher Kälte“, wie es der Erziehungswissenschaftler Andreas Gruschka in seinen „Kältestudien“ dargelegt hat und die Theodor Adorno als Zug erkannt hat, ohne den Auschwitz nicht möglich gewesen wäre.

Deswegen regen sich die Wettbewerbfans auch so auf. Jeder weiß unbewusst, dass er über die Leistungswettbewerbe in der Schule erkaltete, was aber dem Selbstbild, moralisch zu sein, widerspricht, weswegen man den objektiv schlechten Wettbewerb als gut verteidigen muss. Man verdängt damit die eigene Erkaltung.

Da Verdrängung aber immer etwas zurücklässt, beginnt sie stets von Neuem bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr gelingt, und man das Ichideal zur Konfliktbewältigung an einen Führer oder ein Prinzip überträgt, worüber sich eine Masse bilden lässt. Hier kann man dann die eigene Kälte auf ein feindliches Objekt außerhalb der eigenen Gruppe: auf Juden oder Vaterlandsverräter projizieren und Flugblätter schreiben, die dazu aufrufen, sie durch den Schornstein zu jagen, um bei deren gemeinsamer Verfolgung sich aneinander zu wärmen.

Ein Anfang zur Verhinderung solchen Nachwachsens kleiner Helmuts und Huberts könnte sein, wenn in Schulen statt auf sportlichen Wettbewerb, mehr auf die Entwicklung individueller körperlicher Fähigkeiten gesetzt wird - ohne Bewertung. Durch Skateboardfahren, Jonglieren oder Tanzen zum Beispiel.


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