Kommentar: Geschichte hat noch gar nicht begonnen
Im Kampf gegen Rassismus erachten nicht wenige Akteur*innen der Black-Lives-Matter Bewegung es als notwendig, Denkmäler von Konföderierten und Rassisten zu Fall zu bringen. So wurden bereits einige Statuen aus dem Sockel gehauen. Wie z. B. - äußerst medienwirksam - die Bronzeversion des Kolonialherren und Sklavenhändlers Edward Colsten im britischen Bristol. Der Zweck der Denkmalstürze sei, die Geschichte „umzuschreiben“. Auch hierzulande erschwerten die zahlreich aufgesockelten Ottos und Wilhelms die „Versöhnung“ zwischen der weißen Mehrheitsgesellschaft und den von ihr rassistisch Diskriminierten, wie die Deutsche Welle Redakteurin Waafa Al Badry schreibt.
Dass das antirassistische Statuenschubsen nicht bei allen gut ankommt, ist klar. Da sind zum einen weiße Menschen, die beklagen, die Denkmalstürme seien „gewalttätige“ Versuche, „unsere“ Geschichte „auszulöschen“. Und es gibt die etwas Versierteren, die auf Lehrstühlen sitzen und auf Differenzierung pochen: Grundsätzlich sei doch entscheidend, wie z. B. der Historiker Julien Reitzenstein im Cicero in Bezug auf Winston Churchill schreibt, ob Menschen für oder trotz ihrer Verfehlungen geehrt werden.
Abgesehen vom nachvollziehbaren Impuls der von Rassismus betroffenen Denkmalstürmer*innen, Monumente der Unterdrückung ihrer Vorfahren und ihrer selbst in ihrem Stadtbild nicht mehr ertragen zu wollen, sind alle drei Parteien: die Denkmalstürzer*innen, deren Schützer*innen und die Verfehlungsgrade Abwiegenden im Umgang mit der unheilvollen Geschichte der Menschheit auf dem Holzweg. Die Schützer*innen, weil sie zum einen die Gewalt, die die „Geschichte“ ihrer Denkmäler bedeutet, ausklammern und zum Weiteren, weil sie fälschlicherweise glauben, die Monumente stünden überhaupt für „ihre Geschichte“. Weil Kolonialismus, Rassismus und Kriege Ausdrücke dessen sind, dass die Menschen ihre Verhältnisse nicht selbst bewältigen, sondern von ihnen bewältigt werden, stehen Kolonialherren- und Kriegerdenkmäler nicht für die menschliche Geschichte, sondern dafür, dass die Menschen „ihre Geschichte“: ihre Betätigung als einer autonomen Menschheit noch gar nicht begonnen haben. Bislang waren sie bloße Objekte ihres blinden Verlaufs.
Die Stürzer*innen täuschen sich darin, sie schrieben mit der Entfernung der Denkmäler die Geschichte um. Damit leisten sie im Gegenteil der bürgerlichen Gesellschaft ideologische Hilfsarbeit bei der Verdeckung der Tatsache, dass die Gesellschaft der Freien und Gleichen ihre geschichtliche Grundlage in der Gewalt von Menschen über Menschen hat. Worauf die Denkmäler zumindest indirekt verweisen.
Und das Geschichtsverständnis der Abwiegenden ist deshalb nicht zu gebrauchen, weil es fälschlicherweise meint, das Gute in der Geschichte ließe sich vom Schlechten einfach trennen. Der historische Verlauf unserer Gesellschaft unter nicht selbst gewählten Bedingungen produziert aber aus sich gleichermaßen und untrennbar die Bedingungen von Freiheit wie der Barbarei heraus. Dass Churchill gleichzeitig gnadenloser Imperialist und Antifaschist war, ist Ausdruck davon.
Eine progressive Denkmalpolitik, die durch das Erinnern für eine besserer Zukunft einstehen will, hätte die bisherige Geschichte als jene Gleichzeitigkeit von Gewaltverlauf und Entwicklungsprozess der Potenziale von Freiheit darzustellen. Das hieße, die Denkmäler nicht einfach abzureißen, sondern sie um die Opfer der mit ihnen dargestellten Geschichte zu erweitern. Nicht aber bloß als Opfer, sondern ebenso als durch den Geschichtsprozess zugleich ermöglichten Widerstand und Einspruch gegen dessen Blindheit. Damit den Menschen an Denkmälern Geschichte als Antagonismus gewahr werden kann und sie deren Rätsel: warum Geschichte immer noch hinter dem Rücken der Menschen verläuft, endlich lösen könnten.