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Patrick Viol

Hunger verödet Kopf und Herz

In seiner Schrift "Die Naturwissenschaft und die Revolution" führt Ludwig Feuerbach aus, warum gutes Essen und ein freier Geist zusammengehören. Patrick Viol betont die ungeheure Aktualität seiner Ausführungen.
„Nicht mit Gebet, mit Erkenntnis zu genießen, ist menschlich.“ Ludwig Feuerbach.

„Nicht mit Gebet, mit Erkenntnis zu genießen, ist menschlich.“ Ludwig Feuerbach.

„Der Mensch ist, was er isst“ - dieses berühmte Zitat aus dem Werk Die Naturwissenschaft und die Revolution des materialistischen Philosophen Ludwig Feuerbach von 1850 ist nicht bloß ein zur heutigen gesundheitsfetischistischen Zeit passendes Bonmot, mit dem sich gesunde Ernährung philosophisch aufwerten lässt. In den ihn begründenden Ausführungen des Philosophen liegt eine Sprengkraft, die weit über eine Forderung nach gesunden Lebensmitteln für alle Menschen hinausgeht und die nichts an Aktualität verloren hat.
Denn Feuerbachs Gedanken, die auf eine Einheit von Körper und Geist: auf den Leib zielen, die der Idealismus seiner Zeit vermissen lässt und gegen den sich seine Schrift wendet, liegt bereits die Utopie zugrunde, die stets noch - und in Anbrachtet neuer Hungerkatastrophen äußerst dringlich - ihrer Verwirklichung harrt: „dass keiner mehr hungern soll“, wie es bei dem in der Tradition Feuerbachs stehenden Philosophen Theodor W. Adorno heißt.
Das heißt letztlich, dass der Mensch erst dann zu sich selbst als ein freies Wesen kommen kann, wenn er nicht mehr darben muss. Das bedeutet aber auch, dass die Menschheit, solange einzelne Menschen noch hungern und schlecht essen, und das tun nach wie vor zu viele, aktuell noch gar nicht ihrem Begriff entspricht. Entsprechend schreibt Feuerbach: „Wenn wir nichts zu verzehren haben, verzehren wir uns selbst.“ Das trifft metaphorisch wie buchstäblich zu.
Es ist zwar ein gesellschaftlicher Fortschritt, wenn Menschen in Kantinen gutes und gesundes Essen bekommen. Aber solches Voranschreiten ist nach Feuerbach und Adorno nur partikular. Wahren Fortschritt kann die Menschheit nur als vereinte machen. Und vereint ist sie erst dann, wenn sie den Hunger abgeschafft hat. Denn vom Hungernden, zwar selbst Resultat prinzipieller Gewalt in unseren gesellschaftlichen Strukturen, gehe stets auch Gewalt und Brutalität aus: „In schlafloser Nacht quält den Hungernden die Gier, der mächtige Hebel so vieler Leidenschaften. Wer zu Aas und Leichen, zum Fleisch seiner Freunde oder zu seinem eigenen Körper greift, der beweist mehr als die Einbildungskraft der Dichter sich vorstellen kann...Von keinem Triebe wird die Macht des Geistes trauriger besiegt. Der Hunger verödet Kopf und Herz ...“, wie Feuerbach schreibt.
Entsprechend schüfe sich die Menschheit erst durch die allgemeine Abschaffung des Hungers die Grundlage für ihre wahrhafte Kultivierung und Verfeinerung. Auch hierauf zielte Feuerbachs Gedanke vom untrennbaren Band zwischen genährtem Leib und freiem Geist. Das Essen habe nicht nur seinen Zweck in der Erhaltung des kreatürlichen Apparats, sondern in der Beschaffung von Genuss und Freude, die Feuerbach zufolge zugleich die materielle Grundlage wahrer Erkenntnis biete. Denn: „mit Erkenntnis zu genießen, ist menschlich.“
Auch das sollte man heute bei allem Engagement für gesundes Essen nicht vergessen: dass zum Begriff des Menschen eigentlich erst die über die Reproduktion hinausgehende Kultur des Essens und die Verfeinerung der Genüsse gehören. Erst da, wo menschliche Kost sich nicht in bloßer Versorgung erschöpft, ist sie, wie es bei Feuerbach heißt, „die Grundlage menschlicher Bildung und Gesinnung.“ So käme gerade den Menschen, die das Privileg haben, nicht hungern zu müssen, die Aufgabe zu, sich aus ihrer Fähigkeit zum Genuss heraus für das Glück aller einzusetzen, das erst mit dem Ende des Hungers seinen Anfang nehmen kann.


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