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Patrick Viol

Harry Potter: Die realen Widersprüche der magischen Welt

Am 26 Juni vor 25 Jahren erschien der erste Band der Harry Potter Heptalogie, zu der Melanie Babenhauserheide aus der Perspektive der kritischen Theorie forscht. Patrick Viol hat mit ihr u. a. über die Gründe des Erfolgs und den politischen Gehalt der Buchreihe gesprochen.
Das Gleis, über das nicht nur Harry Potter, sondern Millionen von Fantasy-Fans in eine magische Welt voller Geheimnisse gelangten.

Das Gleis, über das nicht nur Harry Potter, sondern Millionen von Fantasy-Fans in eine magische Welt voller Geheimnisse gelangten.

Mit einer Auflage von gerade einmal 500 Exemplaren, scheint der Verlag anfänglich nicht an das Buch von J. K. Rowling geglaubt zu haben. Doch es wurde ein riesen Erfolg. Der erste Band wurde über 100.000.000 mal, die gesamte Reihe an die 500.000.000 Mal verkauft. Was, Frau Babenhauserheide, sind Ihres Erachtens die Eigenarten der Harry Potter Reihe (HPR), dass sie zu solch einem Erfolg kommen konnte?
 
Viele Fans der ersten Harry Potter-Generation sagen, dass sie mit Harry zusammen erwachsen geworden sind; dass Harry sie begleitet hat beim Aufwachsen. Die Romane schmiegen sich an Entwicklungen von Kindern und Jugendlichen an. Die Sprache verändert sich von Band zu Band. Inhaltlich verhandeln sie viele Themen, die in dieser Zeit wichtig sind. Besonders zentral ist das Schwanken zwischen Ohnmacht und Allmachtsphantasien. Diese helfen in der Pubertät, mit der Unsicherheit zurechtzukommen, die die Ablösung von der Familie und die Veränderung des Körpers auslösen. Die Bücher spiegeln das wider: Harry ist das Kind, das im Schrank wohnen muss, und er ist der Retter der Welt. Zugleich greift die Reihe viele literarische Gattungen auf: Versatzstücke von Fantasy, von Internatsromanen, Krimis, sogar von Computerspielen. Da ist für viele etwas dabei. Das gleiche gilt für die politischen Elemente. Zum Beispiel Harrys Freundin Hermine setzt sich für die Befreiung der versklavten Hauselfen ein. Besonders Fans, die selber politisch aktiv sind, können sich da hineinversetzen. Harry hingegen ist genervt davon. So können sich Menschen mit unterschiedlichen politischen Ansichten in der Erzählung wiederfinden.
 
In den Berichten zum Jubiläum werden Fans und Buchhändler :innen gefragt, was für sie der Reiz an Harry Potter ausmacht. Geantwortet wurde oft die Flucht in eine besonders schöne magische Welt. Eine solche Flucht ermöglichen jedoch viele Bücher. Was ist Ihres Erachtens das Spezifische an der magischen Welt der HPR und welche Bedürfnisse spricht sie bei den Lesenden an?
 
Viele Fans sagen: Die Mischung zwischen „realer“ und Fantasy-Welt. Sie können sich zum Beispiel in der humorvollen Darstellung von Konflikten mit Lehrpersonen wiederfinden. Und trotzdem ist Harrys Schule ein Sehnsuchtsort, weil sie magisch ist. Auf der phantastischen Ebene werden Konflikte der Adoleszenz, der Jugend, verbildlicht. Da nehmen die Figuren auf der Toilette einen Zaubertrank ein und werden plötzlich größer, bekommen tiefere Stimmen und Haare an seltsamen Stellen. Die literarische Bearbeitung ermöglicht es, sich mit diesen unheimlichen (und auch mit unbewussten) Vorgängen zu befassen und zugleich Distanz dazu einzunehmen.
 
Was hat Sie an dem Werk gereizt und dazu entschließen lassen, aus ihrer Beschäftigung mit Rowlings Werk sogar eine Doktorarbeit anzufertigen?
 
Ganz ursprünglich haben mich die Lesungen von Rufus Beck gefesselt. Dann habe ich mich darüber geärgert, dass die Romanfiguren alles mögliche aus dem Nichts herbeizaubern können und es trotzdem Armut gibt. Als wenn man sich gar keine andere Welt mehr vorstellen könnte, in der es keine Not gibt. Das war der erste Funken.
 
Wie sind die Bücher denn insgesamt gesellschaftspolitisch ausgerichtet?
 
Die Romane sind politisch sehr widersprüchlich. Im letzten Kapitel sitzen nach dem Sieg über die Bösen plötzlich alle gemeinsam auf Augenhöhe: Hauselfen und Menschen, Lehrer:innen und Schüler:innen usw. Ein utopischer Moment. Danach kommt der Epilog und da ist die alte Ordnung wieder aufgebaut. Es gibt wieder Konkurrenz und eine klare Rangordnung. Der Epilog endet mit dem Satz „Alles war gut.“ Diese beiden Happy Ends passen nicht zusammen.
 
Und was zeigt sich Ihres Erachtens daran?
 
Das Interessante ist, dass es gerade diese Widersprüche sind, die die Leser:innen zum kritischen Denken anregen. Über den Epilog wird unter Fans viel diskutiert. Einige finden ihn schön, andere enttäuschend, ärgerlich. Viele schreiben neue Texte, in denen sie die Geschichte anders weitererzählen. So setzten sie sich kritisch und liebevoll zugleich mit dem Original auseinander.
 
Heutzutage wird anders als vor 25 Jahren viel über die politische Korrekt- bzw. Unkorrektheit von Kinder- und Jugendbüchern gesprochen bzw. gestritten. Auch Sie sprechen in ihrem Buch von Ideologie der Romane, plädieren aber nicht für ein Verbot oder eine Überarbeitung, wie es nun mit einigen anderen, vor allem älteren Büchern erfolgt. Für welch einen Umgang mit Ideologie in Literatur plädieren sie bzw. was ist Ihr Fazit aus der Beschäftigung mit der Reihe?
 
Oft gehen Erwachsene davon aus, dass die Teile einer Erzählung, die Herrschaftsverhältnisse rechtfertigen, bei Kindern und Jugendlichen dazu führen, dass diese sich daran anpassen. Wie die Fans mit dem Epilog umgehen zeigt aber: Das stimmt gar nicht, oder zumindest für viele nicht. Außerdem gibt es in den Büchern Motive, die in sich widersprüchlich sind. Zum Beispiel, dass Harry sein Leben opfert für eine bessere Welt. Das Opfer ist aber doppeldeutig. Man kann es so verstehen, dass wir für Emanzipation unser altes Leben aufgeben müssen. Man kann es aber auch so lesen: Das Glück der Einzelnen ist nichts wert, nur das Gemeinwohl zählt. Viele Widersprüche haben auch etwas mit der Widersprüchlichkeit der Welt zu tun. Und die kann man nicht allein durch andere kulturelle Darstellungen aufheben. Ein Punkt, der aktuell bei der Bewertung von Kinderliteratur oft hochgehalten wird, ist Realismus, zum Beispiel im Hinblick auf Vielfalt. Meine Untersuchung zeigt jedoch, dass häufig die literarische Bildersprache besonders gesellschaftskritisch ist. Zum Beispiel die Dementoren verkörpern beeindruckend die Gewalt von Gefängnisstrafen, gerade dadurch, dass man sie nicht eins zu eins in unsere Welt übersetzen kann. In den aktuellen Debatten wird auch oft stark gemacht, dass es positive Vorbilder geben müsse. Ein Ergebnis meiner Untersuchung ist demgegenüber, dass die Romane oft gerade dadurch Herrschaft bejahen. Dumbledores Autorität erscheint als Gegenbild zu den schlechten Lehrer:innen. Im Grunde steht er jedoch für ein undemokratisches System der Willkür. Ich plädiere für kritische Auseinandersetzungen mit solchen Elementen.
 
Ihr Buch erschien 2018. Beschäftigen Sie sich noch immer mit Harry Potter und wenn, ja in welcher Form?
 
Aktuell untersuche ich Liebesgeschichten über Harry und Draco von vornehmlich weiblichen Fans im Hinblick auf Vorstellungen über Liebe und Sexualität. Gerade habe ich auch einen Artikel darüber veröffentlicht, wie die Fans in solchen Erzählungen damit umgehen, dass die Kobolde arg an antisemitische Karikaturen erinnern.

 Die mit dem Peter Lang Nachwuchspreis ausgezeichnete Dissertation: Harry Potter und die Widersprüche der Kulturindustrie. Eine ideologiekritische Analyse ist 2018 im transcript Verlag erschienen und für 39.99 erhältlich.  


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