Gerechtigkeitsfrage ist religiös - Gregor Gysi besuchte Kreisstadt für Loccumer-Kreis-Vortrag
von Eva Kairies
Osterholz-Scharmbeck. Der Rathaussaal der Stadt schien zu bersten: Es kamen sehr viele Menschen, um Gregor Gysi live zu sehen und zu hören, der auf Einladung des Loccumer Kreises zum Thema „Die Notwendigkeit von Kirche aus der Sicht eines Atheisten“ sprechen wollte.
Der heutige Präsident der europäischen Linken wurde von Superintendentin und Mitglied des Loccumer Kreises Jutta Rühlemann kurz vorgestellt als Träger des Ordens „Wider den tierischen Ernst“, der erkannt habe, dass man ohne Humor keine Aufmerksamkeit bekomme und der weder schwarze noch weiße Wege gehen wolle. „Das trifft auch auf seine Haltung zur Religion zu, die unverzichtbar ist für allgemeingültige moralische Werte.“ Gysis bekanntes Zitat, dass er eine gottlose Gesellschaft fürchte, zeige, dass er als Atheist der Religion positiv gegenüberstehe, was nicht von jedem Religiösen behauptet werden könne. Gysi selbst sagte, er werde des Öfteren von Gemeinden zu Predigten eingeladen. Die lakonische Frage, ob dies mit dem Personalmangel der Kirchen zu tun habe, beantwortete er mit einem weniger amüsanten Nein und der Vermutung, dass eben keiner mehr Ahnung habe, wie man alles verbalisieren könne, was wichtig sei wie eben Politik, Trump oder der Syrienkrieg. „Wir sind alle schlecht informiert.“
Digitale Herausforderung
Die digitale Herausforderung bedrohe uns mit dem Wegfall der Arbeitsplätze, „doch der Mensch ist so: Er lässt sich neue Jobs einfallen.“ Computer seien zwar schneller im Rechnen als wir und dennoch sei selbst die künstliche Intelligenz zwar eine Intelligenz, die sich weiterentwickeln könne, aber keine Intelligenz, die fühlen könne. „Und wenn es nicht genug Jobs gibt, dann wird die Arbeitszeit verkürzt“, fand Gysi. Überhaupt würden sich die Sozialsysteme ändern: „Schön wäre die Abschaffung der Lohnnebenkosten der Arbeitgeber. Sie sollten dafür eine Wertschöpfungsabgabe entrichten in die sozialen Sicherungssysteme.“ Gysi stellte als Grundprinzip ein Denken vor, das die Vorteile sichern, aber den Missbrauch verhindern solle. „So braucht es auch das Internet: Man steht chancenlos davor, wenn Lügen über einen verbreitet werden über die sozialen Medien.“ Der Prozess der Digitalisierung würde durch die Globalisierung beschleunigt werden, „die Konzerne sind weltumspannende Netzwerke, die die Nationalstaatsfragen längst überwunden haben“. Ob die Politik schaut, was der Finanzmarkt macht oder ob der Finanzmarkt, was die Politik mache, sei nicht immer eindeutig. „In einer Demokratie ist das Aufgabe der Politik, und nicht des Finanzmarktes!“
Gysi sprach über weltweite Wirtschaftsmächte gegenüber politischen Weltmachten, über den weltweit möglichen Lebensstandardvergleich durch das Internet und über Flüchtlinge. Kapitalismus könne nicht für Frieden sorgen: „Solange Mächte an Kriegen verdienen können, werden Kriege nicht aufhören.“ Auch die absolutistische Macht der Kirche sei missbraucht worden. „Luther wollte eine Reformation der Kirche. Und das hat sie am Ende gespalten.
Nie voraussehen, wenn man am Anfang steht
Wir können nie voraussehen, was passiert, wenn wir am Anfang stehen.“ Die Reformation sei ein gewaltiger Schritt gewesen, der alles in Frage gestellt habe. „Und es gab weiter viele Fortschritte“ - zu viele, denn es liege in der Natur des Menschen, dass er nicht aufhören könne zu siegen. Um wieder besser zu informieren und bestimmte Interessen abzubauen, bedürfe es der Bildung von Gesprächskreisen gerade mit Vertretern aus Kunst, Kultur, Kirche, Gewerkschaften etc. „Die AfD zu verbieten ist Blödsinn, man muss das Interesse an dieser Partei abbauen.“ Das Moralverständnis der Gesellschaft könne von Religion allgemeinverbindlich geprägt werden, kam Gysi zur Frage zurück. „Die Bergpredigt hat die entscheidende Botschaft, auch wenn man sich natürlich nicht komplett danach richten kann.“ Nach seinem Moralverständnis sollte die Steuerpflicht an die Staatsbürgerschaft gebunden werden, wie in den USA, „denn die Gerechtigkeitsfrage ist auch eine religiöse Frage. Es muss nicht alles noch komplizierter werden, aber als Zweckoptimist, der ich bin, hoffe ich nicht, dass Gott lenkt. Aber ich hoffe, dass sich bei der Mehrheit der Gesellschaft der Optimismus durchsetzt. Kirchen muss es geben, und auch Menschen, die an Gott glauben. Sie haben das Recht dazu.
Demokratie hat man erst begriffen, wenn man weiß, dass der andere auch Recht hat.“ Das gelte auch für ihn und sein Verhältnis zur CSU, „ich möchte nicht ohne die CSU sein“, die aber seiner Meinung nach gern kleiner sein könnte.
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