

Der deutsche Journalismus wollte im Jahr 2025 wieder besonders brav sein. Während in der Politik nahezu über jedes Thema gestritten wurde, legte er sich formal wie inhaltlich auf einen emotionalen Aggregatzustand fest, der – wenn überhaupt – auf wenige Tage im Dezember, Seifenopern und klamaukige Weihnachtsfilme beschränkt sein sollte. Wie diese hob er im vergangenen Jahr zwar permanent Streit aufs Tableau, nicht aber, um ihn in argumentativer und polemischer Härte zu führen, sondern um Konflikte falsch zu begrenzen.
In Weihnachtsfilmen wie „Schöne Bescherung“ oder „Der kleine Lord“ werden durch berufliches Scheitern oder emotionale Kälte verursachte Konflikte psychologisch versöhnt – durch gegenseitiges Wiederverstehen, nicht durch Veränderung der Strukturen, die Scheitern und Kälte hervorbringen. Streit wird personalisiert und moralisierend eingehegt, also von der gesellschaftlichen Ebene abgelöst, aus der er entsteht. Er erscheint als durch gutes Benehmen vermeidbar und wird daher implizit skandalisiert. Dass er notwendiger Ausdruck überfordernder Antagonismen widersprüchlicher Verhältnisse ist, wird verdeckt und gegen das Begreifen abgeschirmt.
Die Erzählung erfolgt hier vor einem Realität verflachenden, schnelle Versöhnung erzwingenden Harmoniehintergrund. Vor einem solchen Hintergrund und im Modus einer Besinnlichkeit, die nicht zur Reflexion, sondern zur Erfahrung verweigernder Entsinnlichung treibt, lief auch ein beachtlicher Teil der Berichterstattung im vergangenen Jahr. Ob Richterämter, Migration, Klimaschutz, Rente oder Steuern – Thema war regelmäßig die redaktionell inszenierte Gefahr des Konflikts und wie er schnell zu lösen sei, nicht dessen kritische Analyse.
Ritualisierte Empörung
Der Streit wurde – im skandalisierenden Tonfall und in Konflikte personalisierender Erzählform – dabei wiederholend als Stillstand, nicht als Motor der Demokratie; nicht als deren Lebendigkeit, sondern als deren Gefährdung dargestellt. Konflikte machten deutsche Journalisten nicht als notwendige auf ökonomische Klassen- und politische Interessensgegensätze rekurrierende Form politischer Artikulation deutlich und verständlich. Sie kritisierten sie nicht als Ausdruck von Ideologie, sondern vornehmlich als kommunikatives Fehlverhalten und „Vertrauen verspielenden“ Frevel an der von ihnen unhinterfragt vorausgesetzten Kompromissbereitschaft. Diese vor allem vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk verbreitete realitätsabblendende und konformitätsfordernde Empörung über Streit verbindet die Tagesthemen ideologisch mit dem Weihnachtsfilmkitsch – sie sind zwei Seiten derselben Verblödungsmedaille.
Kompromissdenken
Kompromissorientiertes Denken setzt voraus, dass alle Konflikte prinzipiell vermittelbar seien. Damit erklärt es den Konflikt selbst zum Problem – nicht die widersprüchlichen Interessen, Machtverhältnisse oder (Un-)Wahrheitsansprüche, aus denen er entsteht. Wo der Kompromiss zur Norm erhoben wird, wird der Inhalt zweitrangig. Entscheidend ist nicht mehr, was politisch vernünftig wäre, sondern dass man sich einigt. Das ist Journalismus als Kitt, dabei müsste es ihm um Bruchlinien gehen.
Exemplarisch ließ sich das jüngst beobachten, als der Spiegel-Journalist Markus Feldenkirchen bei hart aber fair, oder Weltkolumnistin Anna Schneider, Bild-Politikressortleiter Jan Schäfer und Kabarettist Florian Schroeder in Nena Brockhaus Welt-Format „Meinungsfreiheit“ Bärbel Bas dafür kritisierten, auf einem Juso-Bundeskongress Unternehmer als politische Gegner zu benennen. Anstatt Bas‘ überraschenden, an den Ursprung der Sozialdemokratie erinnernden arbeitnehmerorientierten Klartext zu würdigen, oder ihre Kampfansage als Widerspruch zu ihrer arbeitnehmerfeindlichen Bürgergeldreform zu zerpflücken, sahen die für das Gelingen der Demokratie Parteipolitik eskamotierenden Journalisten mal wieder „Zerwürfnisse“, „Grabenkämpfe“ oder „Belastungsproben“ bedrohlich am Horizont der Standortsicherung heraufziehen. So erfolgte statt einer die – sich durch ökonomische und politische Gegensätze hindurchbewegende – gesellschaftliche Realität reflektierenden Einordnung von Bas’ Ansage eine moralisierende und persönliche Anklage:
Zum einen stehe einer Arbeitsministerin eine parteipolitisch motivierte Kampfansage nicht zu. Was formell wie institutionell unbegründeter Quatsch ist und die lange Tradition arbeitgeberfreundlicher Arbeitsminister ignoriert. Zum anderen verkenne Bas „vernünftige Politik“, die das „Wesen der Demokratie“: den Kompromiss (Feldenkirchen) wertschätze. In Zeiten der Demokratiegefährdung ginge es nicht um Streit, Kampf, Gegnerschaft. Bas verspiele das Vertrauen in die Regierung, da ein Keil zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern den Wohlstand für alle gefährde.
Demokratie verstehen deutsche Journalisten also nicht als gewaltlose Austragungsform strukturell bedingter antagonistischer Interessen, sondern als moralische Übung in Mäßigung und gemeinschaftliche Standortsicherungsveranstaltung. Auseinandersetzung ja, aber im Rahmen, nicht auf den Rahmen reflektierend. Wer politische, aus der ökonomischen Struktur resultierende Gegnerschaft markiert, gilt als jemand, der spaltet und die Gemeinschaft der Steuerzahler gefährdet. Nicht der Konflikt selbst wird geprüft, sondern seine Zumutbarkeit, über die in Deutschland die in den Vorfaschismus zurückreichende und vom NS mobilisierte Ideologie prästabilierter Harmonie bestimmt. Der Unterschied zu Weimar: Damals sollte der Führer auf den Tisch hauen, auf den man heute die Forderung legt, leiser, freundlicher, konsensualer zu sprechen – also eine Sprache zu bemühen, die wie Orwells Neusprech gedanklich so verarmt ist, dass sie die Realität sprachlich auszudrücken verhindert.
Geschenke für Populismus
Dieser sich von Politikerinterviews kaum unterscheidende, Politik illusorisch als Vernunftgespräch statt reell als von unvernünftigen Verhältnissen bedingten Kampf um Ressourcen und ideologische Hegemonie erscheinen lassender Journalistenjargon drückt daher zum einen keine herrschaftskritische, sondern eine machtkonformistische Haltung aus. Er hilft die Grundlage von Herrschaft zu verdecken: dass nur brüchig zwangsvermittelte, sich stets reproduzierende und zum Wahn antreibende Widersprüche, nicht Harmonie das Wesen unserer Gesellschaft sind.
Zum anderen aber – und das macht diesen Journalismus verantwortungslos und Demokratie als gefahrlosen Ort der Streitaustragung gefährdend – schürt er das Ressentiment und verhindert die Herausbildung politischen Urteilsvermögens. Die Geschenke fürs Bravsein bekommt nicht er, sondern der Links-und Rechtspopulismus. Denn die Skandalisierung des Streits geht stets einher mit der Verbreitung des ökonomischen Märchens vom Trickle-down-Effekt – der von der Realität Lügen gestraften Vorstellung, gesellschaftlicher Kompromiss von Kapital und Arbeit (nicht deren politisch regulierte Ausbeutung) – produziere einen von oben nach unten durchsickerenden Reichtum.
Weil aber weder Harmonie noch ein Wohlstand für alle sich einstellen wollen; weil nur Unsicherheit und Not durchsickern und der Journalismus zugleich die Gründe für diesen anhaltenden Unfrieden verdeckt, erzeugt er diffuse, populistisch mobilisierbare Unzufriedenheit. Die Kehrseite des Kompromissdenkens ist eine autoritäre Emotionalisierung des Publikums.
Dialektik des Vertrauens
Dieser Dauerweihnachtsfilm, auf den sich der deutsche Journalismus bewusstseinsmäßig eingeschossen hat, ist Ausdruck seiner eigenen Krise. Weil er in einer strukturell Handlungsmacht durchstreichenden, narzisstisch kränkenden und darüber an ihrer Meinungsfreiheit nicht vernünftiger, sondern irrer werdenden Gesellschaft an Bedeutung verliert und immer mehr Menschen das Vertrauen in ihn verlieren, hängt er – ähnlich wie Politiker – sein Überleben an eine formale Angleichung ans Publikum. Sein Fake News Aufklärungsfimmel erscheint daher als inhaltliche Kompensationsleistung für den Aufklärungsverrat auf formaler Ebene. Der Trugschluss dabei ist, dass der Journalismus auf diese Weise Vertrauen zurückgewinnen könnte. Gerade weil die Menschen von ihrer Ohnmacht unbewusst eine Ahnung haben, ist eine Angleichung an sie eine Spiegelung ihrer Schwäche und erzeugt projektive Abwehr. Der Journalismus erscheint so unfähig wie man selbst. Eine neue Allensbacher Studie zum Vertrauen in Institutionen belegt diese These indirekt, zeigt sie doch, dass die Befragten sich selbst ähnlich fähig oder fähiger halten als Politiker, Richter und Journalisten und ihnen gleichzeitig das Vertrauen entziehen.
Sachliche Autorität und Vertrauen – seine Position als die Menschen zur Vermittlung aus ihrem „Ich-bin-wie-ich-bin-Gefängnis“ zwingender Dritter könnte der Journalismus nur durch symbolische Distanz zurückgewinnen.
Kühle Versöhnung
Ein Modell dafür, was das konkret heißen könnte, bietet z.B. – so widersprüchlich ist die Kultur – ein zentrales Element des Christentums oder Dickens Weihnachtsgeschichte.
Der kritische, abseitige Kern der christlichen Versöhnung liegt nicht in Harmonie, sondern im Skandal der Schuld. Nicht das Fest, sondern das Kreuz steht im Zentrum. Versöhnung geschieht nicht durch Verständnis, sondern durch Erinnerung an Schuld, die nicht verrechnet werden kann – als Chiffre der Kultur zielt sie nicht auf persönliches Vergehen, sondern rekurriert auf die unversöhnte, herrschaftlich getrennte Menschheit.
Versöhnung ist hier nicht warm, sondern kühl. Sie setzt Anerkennung von Unrecht voraus, nicht dessen emotionale Überwindung. Sie ist an Asymmetrie gebunden: an Opfer, Verlust, Nicht-Wiedergutmachbares.
In Dickens Weihnachtsgeschichte vollzieht sich Scrooges Wandlung nicht durch Empathie, sondern durch Konfrontation mit seiner Schuldgeschichte. Die Geister fungieren als Instanzen der Erinnerung. Versöhnung entsteht erst, nachdem Schuld nicht mehr verdrängt werden kann. Das Leid der anderen bleibt real.
Genau dieses Moment widerspricht der Logik der Kulturindustrie wie der Konsensrhetorik.
Dort, wo Versöhnung an Schuld erinnert und über einen Dritten vermittelt wird, bleibt sie kritisch. Dort, wo sie ohne Erinnerung, ohne Opfer, ohne Negativität auskommt, wird sie affirmativ. Weihnachten schwankt zwischen diesen Polen – und das ist erträglich.
Der Journalismus jedoch sollte die Position sachlich begründeter Unversöhnlichkeit einnehmen, Kreuz und Geist der Vergangenheit sein. Wissen, wie es um die Menschheit steht und deshalb Streit nicht dämpfen, sondern strukturieren und offen halten. Interessen sichtbar machen, Machtverhältnisse benennen, Gewinner und Verlierer markieren.
Offenheit über systemische Gegensätze kann demokratische Prozesse stärken. Wer klar ausspricht, dass es unvereinbare Interessen zwischen Kapital und Arbeit, zwischen staatlichen Aufgaben und begrenzten Ressourcen, zwischen sozialen Gruppen und Ideologien gibt, nimmt die Bevölkerung ernst. Konfliktklarheit schafft Orientierung und ermöglicht Entscheidungen: Bürgerinnen und Bürger können einschätzen, worum es bei einer Auseinandersetzung geht, statt sich durch ritualisierte Kompromissformeln vertröstet zu fühlen.
Demokratie lebt nicht davon, dass alle am Ende zufrieden sind, sondern davon, dass das Unversöhnliche benannt bleibt. Nur so – ohne die Anstachelung falscher und autoritär mobilisierbarer Harmoniebestrebungen – bleiben Perspektiven einer versöhnten Menschheit offen.




