Ein starkes Stück Sozialdemokratie - 60 Jahre Schröder
Sechs Jahrzehnte Schröder bedeutet: deutscher Winterhilfswerk-Keynesianismus und Friedenskanzler von Putins Gnaden, Agenda 2010 und Abhängigkeit von Russland.
Am 27. Oktober wird Gerhard Schröder wegen seiner 60-jährigen Parteimitgliedschaft von den Sozialdemokraten geehrt. Nach einem gescheiterten Parteiausschlussverfahren wird er nun wie jedes andere SPD-Mitglied behandelt und mit Anstecknadel und Beurkundung für sein Schaffenswerk von seinem alten hannoveraner SPD-Bezirk gewürdigt.
Zwar handelt es sich bei dem seit fast zwei Jahrzehnten in russischen Wirtschaftsdiensten stehenden Altkanzler um einen wandelnden Untoten, ein Bauernopfer, von dem sich sowohl seine Parteigenossen als auch weite Teile der Ampel und CDU-Opposition nach dem 24. Februar 2022 gar nicht schnell genug distanzieren konnten, um ihre eigene ökonomische Verstrickung in das Desaster und ihre eigene polit-ideologische Wegbereitung des russischen Neoimperialismus zu kaschieren. Andererseits reicht die angekündigte Ehrung allemal für eine kritische Rekapitulation der von ihm mit- und hauptverantworteten politischen Gruseljahre, aus denen er mit unrühmlichen Bezeichnungen wie Friedenskanzler, Gas-Gerd oder Genosse der Bosse in die Annalen der deutschen Politikgeschichte einging.
Dieser erste Teil legt den Fokus dabei auf Schröders wirtschafts- und sozialpolitisches Reformprogramm der Agenda 2010. Der zweite Teil dreht sich um die - längst nicht nur durch Schröder vorangetriebene, aber durch ihn verkörperte - dem russischen Neozarismus zuarbeitende Außen- und Energiepolitik.
Die Agenda 2010
Wer sich fragt, wo die Reise Kevin Kühnerts enden könnte, nach seiner bereits angefangenen Transformation vom jungsozialistischen Idealisten zum makellosen Parteikarrieristen, kann dies wunderbar am Lebenslauf des Altkanzlers prognostizieren. Der verlief vom „konsequenten Marxisten“, wie sich der damalige Juso-Vositzende laut eines Spiegelberichts von 1978 selbst beschrieb, zum siebten Bundeskanzler der Republik, der die massivsten Sozialabbaugesetzte aller Zeiten zu verantworten hatte.
Bereits vorher brach er mit früheren linksidealistischen Positionen, z.B. als er 1992 als damaliger niedersächsischer Ministerpräsident für den sogenannten Asylkompromiss stimmte, inklusive kruder späterer Rechtfertigungen. Genauso wie es vielen Ex-Genossen sauer aufstieß, dass zu Beginn seiner Amtszeit als Bundeskanzler in einer rot-grünen Koalition der erste deutsche Auslandseinsatz der Nachkriegsgeschichte zu verzeichnen war. Aber erst mit dem Programm der Agenda 2010 stieß er die Partei in einen über Jahre andauernden Kollaps, der mehrere schwere Parteikrisen nach sich zog, ihr zukünftige Wahlschlappen bescherte und zum - vorübergehenden - Aufstieg der konkurrierenden Linkspartei beitrug.
Der Staat als Fürsorgeanstalt
Um der schwächelnden Wirtschaftsleistung der wiedervereinigten Republik entgegen zu wirken und die angestiegene Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, verkündete Schröder in einer Regierungserklärung am 14. März 2003 einen umfassenden Reformkatalog für das deutsche Sozialsystem mit dem Ziel, Deutschland vom „kranken Mann Europas“ wieder in dessen Antriebsmotor umzugestalten. Dazu gehörten mehrere wirtschafts-, bildungs- und sozialpolitische Änderungen, wie die Leistungskürzungen gesetzlicher Krankenkassen, die Aufweichung des Kündigungschutzes oder das Konzept der Ganztagsschule.
Kern des Reaktors waren allerdings zweifelsohne die von der Kommission des ehemaligen VW- Personalvorstands Peter Hartz ausgearbeiteten Vorschläge, die von der rot-grünen Regierung am 17. Oktober 2003 umgesetzt wurden. Das Gesetz zur Zusammenführung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe trat dann im Januar 2005 in Kraft. Gemäß dem hyperkeynesianistischen Evergreen, den Kapitalismus auf seiner eigenen Grundlage zu zähmen zu versuchen, wurde der Staat in eine Fürsorgeanstalt transformiert, in dem er sich selbst als Vermittlungsinstanz zwischen den Erwerbslosen und den Nützlichen aufspielt und versucht, „das Problem der Armut zu lösen, indem man die Armen am Leben lässt“ (Oscar Wilde).
Nicht nur durch ein absolute Minimum an Lebenshaltungskosten und der Intensivierung der Zumutsbarkeitskriterien - ALG-2 Empfänger haben in vielen Fällen weniger Geld bekommen als durch die vorherige Sozialhilfe und waren fortan gezwungen, die Vermittlungsvorschläge der Bundesagentur für Arbeit anzunehmen -, sondern auch durch sozialen Druck sollte die freiwillige Integration von Millionen Menschen in den Niedriglohnsektor, in Zeit- und Leiharbeitsfirmen und Ein-Euro-Jobs erfolgen.
Mobilmachung gegen die Unnützen
Der soziale Druck erfolgte durch eine gesellschaftliche Mobilmachung mit der fortwährenden Karikatur der Unproduktiven, Unnützen und Faulen, die nicht arbeiten wollten, den Steuerzahlern auf der Tasche lägen und deren Nonchalance sich schlussendlich auch am Konsum von Genussmitteln wie Tabak, Alkohol und Fleisch zeigen würde. Zusätzlich hat die Kürzung von ALG-1 die neidprojektiven Konkurrenzdebatten noch verstärkt und die Verarmungsangst von Menschen geschürt, die bereits Jahrzehnte gearbeitet haben und ihre potentielle Deklassierung mit dem sozialchauvinistischen Blick auf die ALG-2 Bezieher zu kompensieren versuchten. Ein Gesellschaftsmoment, das bis heute anhält und gerade in der vergangenen Diskussion um das Bürgergeld - dessen Erhöhung in Relation zur Preisschockrate und den damit beschlossenen weiteren Repressalien eine Verschlechterung von Hartz-IV darstellt - wieder zu sich selbst kam.
Laut einer Umfrage des ZDF-Politikbarometers 2022 befürwortete die Mehrheit der Befragten, darunter auch ein Groß der SPD-Wähler, bereits im Vorfeld die jüngst beschlossenen strengeren Repressalien bei Bürgergeldbeziehern. Das weist bereits auf ein oftmals reproduziertes Missverständnis hin: der Grund für die SPD-Krise nach der Agenda 2010 bestand nie in einer Kritik daran, dass man Arbeitslosen nichts anzubieten hatte, außer sie durch Kürzungen und sozialen Druck in schlechte Jobs reinzupressen, die nicht zuletzt auch durch höhere Abgaben der ausgebildeten Niedrigverdiener und Arbeiter mit alimentiert wurden, also an Hartz-IV selbst. Die Kürzungen für Arbeitslose wurden zudem von zahlreichen anderen Parteien und ihren Wählern affirmativ getragen, auch Merkel selbst bezog sich nach ihrem Amtsantritt explizit positiv darauf.
Die Kritik bestand immer vornehmlich an der Kürzung von ALG-1, am Absinken des Lohn- und Rentenniveaus und einer Verdrängung von ausgebildeten Gering- und Untere-Mittelklasse-Verdienern, die sowohl von höheren Abgaben als auch einem immer unbeständiger und fluide gewordenen Arbeitsmarkt betroffen waren.
Die Restbestände der Arbeiterklasse
Das System Schröder hat vor allem deshalb zu einem sozialdemokratischen Krisenjahrzehnt geführt, weil es nicht zu einer Festigung eines stabilen Lohnniveaus beitrug und sich neben Selbständigen und Besserverdienern, die ohnehin nicht zur SPD- Stammwählerschaft gehörten, nun auch vor allem Geringverdiener über erhöhte Steuersätze, Abstiegsbedrohung, befristete Arbeitsverträge und Prekarisierung mokierten. Ein Umstand, der sich vor allem ideologisch in der Entrüstung über das Durchfüttern von sogenannten Sozialschmarotzern und Faulenzern niederschlägt.
Es handelt sich um eine Radikalierungstendenz, die im System Schröder bereits immanent war und eine Art unteren Konkurrenzkampf zwischen den potentiell Deklassierten und Verschlissenen hervorbringt. Die Restbestände der Arbeiterklasse, die allein schon deswegen keine ist, weil sie sich selbst nicht so wahrnimmt, nahmen Schröder nicht die Sozialkürzungen von Arbeitslosen übel. Vom keynesianistischen Krisenlösungsmodell benebelt, nahmen sie ihm übel, dass sie fortan dafür aufkommen mussten.
Lesen Sie Teil 2 am 28. Oktober.