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Den Schwächeren beistehen

Niedersachsen (jm). Der Begriff der Solidarität und seine praktischen Folgen.
 
Für Gewerkschaften spielt der Begriff der Solidarität für ihren Arbeitskampf seit jeher eine zentrale Rolle. DGB-Plakat zum 1. Mai aus dem Jahr 1961.  Foto: dgb.de

Für Gewerkschaften spielt der Begriff der Solidarität für ihren Arbeitskampf seit jeher eine zentrale Rolle. DGB-Plakat zum 1. Mai aus dem Jahr 1961. Foto: dgb.de

„Solidarität ist Zukunft“ - so lautet das Motto des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) für den diesjährigen 1. Mai. Der Begriff wird häufig in verschiedenen Zusammenhängen bemüht, seit Beginn der Corona-Krise hat er wohl noch weitere Verbreitung gefunden. Doch was bedeutet Solidarität eigentlich?
Das Wort „Solidarität“ stammt aus dem Lateinischen und Französischen. Das lateinische Wort solidus bedeutet gediegen, echt oder fest. Der Begriff bezeichnete im römischen Recht das, was man heute in Deutschland Gesamtschuld oder Solidarobligation nennt. Außer, dass der Begriff eine bestimmte Form der Gemeinschaftsstiftung (in diesem Fall über Schulden) bezeichnet, hat er mit dem heutigen Verständnis von Solidarität allerdings nicht mehr viel zu tun.
 
Versuch einer Definition
 
„Jede/r muss für sich klären, was Solidarität bedeutet und wie man sich im Alltag solidarisch zeigt“, schreibt der DGB auf seiner Website zum diesjährigen Programm am 1. Mai. Aber bei aller individuell und praktisch unterschiedlichen Auslegung des Begriffs geht es bei Solidarität im allgemeinsten Sinne doch immer darum, dass Menschen füreinander eintreten, etwa auf der Basis gemeinsamer Werte, Interessen oder eines Gefühls der Zusammengehörigkeit. Dabei spielt es keine Rolle, ob man die Menschen kennt oder sie mag.
Viele Autor:innen betonen, dass dies freiwillig und ohne Aussicht auf bloß eigene, subjektive Vorteile geschehe.
Wobei Jürgen Habermas solidarisches Handeln auch im Eigeninteresse der Akteur:innen begründet sieht: „Wer sich solidarisch verhält, nimmt im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, im langfristigen Eigeninteresse Nachteile in Kauf“, schreibt der Soziologe. Als Gegenbegriff zur Solidarität gilt die Konkurrenz, bei der sich Akteur:innen im Wettbewerb um die gleiche, begrenzte Ressource befinden und sich gegenseitig beeinträchtigen.
Der Soziologe Heinz Bude betont - als eine Folge der Pandemie - die Verletzlichkeit des Individuums als Grundlage der Solidarität: „Die Pandemie hat ein neues Motiv geschaffen: Man kann noch so reich, noch so schlau sein: Man kann sich nicht selber schützen, wenn andere sich nicht auch schützen“, sagt er. Anders gesagt: Konkurrenz funktioniert in der Pandemiebekämpfung nicht. Die Erkenntnis der individuellen Verletzlichkeit, so Bude, sei die Grundlage einer „zukunftsfähigen Solidarität“ und stehe der neoliberalen Idee, eine gute Gesellschaft bestehe aus starken Einzelnen, die für sich selbst sorgen können, gegenüber.
 
Solidarität in Institutionen
 
Ganz neu ist diese Idee allerdings nicht. Wir sehen sie beispielsweise seit über hundert Jahren in den Institutionen des Sozialstaats (teilweise) verwirklicht. Gesetzliche Versicherungen wie die Krankenkasse oder Rentenversicherung sind beispielsweise in Deutschland unter anderem nach dem sogenannten Solidaritätsprinzip organisiert: Die Mitglieder sind nicht allein für sich selbst verantwortlich, sondern gewähren sich durch ihre Beitragszahlungen gegenseitig Hilfe und Unterstützung. Auch die Beitragsbemessung kann man als solidarisch verstehen: Sie richtet sich nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Wer über mehr finanzielle Mittel verfügt, wird verpflichtet, die Gemeinschaft der Versicherten auch mit höheren Beiträgen zu unterstützen, ohne dafür jedoch mehr Leistungen zu erhalten, als alle anderen Mitglieder. Das individuelle Risiko spielt dabei keine Rolle. Private Versicherungen sind demgegenüber nach dem Äquivalenzprinzip gestrickt: Wer ein höheres Risiko hat, muss mehr zahlen.
Große Bedeutung hat die Solidarität seit jeher im Arbeitskampf. Anstatt individuell - und möglicherweise in Konkurrenz zueinander - mit ihren Arbeitgebern um bessere Arbeitsbedingungen zu ringen, schlossen sich die Mitglieder der Arbeiterbewegung in solidarischen Gruppen wie Gewerkschaften zusammen. So verleihen sie bis heute nicht nur ihrer Stimme mehr Gewicht, sondern verhindern auch, dass individuelle Absprachen genutzt werden, um Standards zu untergraben. Gewerkschaften sind also ein Beispiel für solidarische Gruppen, die auf der Basis eines gemeinsamen Interesses entstehen.
Es gibt zahlreiche weitere Beispiele für Solidarität, auch im Alltag. Wer etwa Fair-Trade-Produkte kauft, verhält sich solidarisch gegenüber den Produzent:innen. Eine Blutspende kann als Akt der Solidarität verstanden werden, ebenso die Teilnahme an einer Demonstration oder ehrenamtliches Engagement für schwer kranke Menschen.
 
Praktische Solidarität in der Krise?
 
Akte der Solidarität hat es seit Beginn der Corona-Krise zahlreiche gegeben. Die Nachbarschaftshilfe mag vielen als Erstes in den Sinn kommen. Solidarisch ist auch das Verhalten von Millionen jungen, gesunden Menschen, die nicht als besonders gefährdet gelten, sich aber an Kontaktbeschränkungen und andere Regeln halten, um Risikogruppen zu schützen. Auch das Gegenteil von solidarischem Handeln konnte man zu Beginn der Pandemie beobachten: Hamsterkäufe und gestohlene Hygieneartikel sprechen - sofern sie zur Anhäufung eines überdimensionierten Vorrats oder für den gewinnbringenden Verkauf zu Wucherpreisen gehortet worden - nicht für eine solidarische Haltung anderen Menschen gegenüber.
Oder die die gemeinsame Impfstoff-Bestellung durch die EU - damit sollte Konkurrenz unter den Mitgliedsstaaten verhindert werden. Sie war als solidarische Aktion zugunsten der finanzschwächeren EU-Staaten gedacht. Ausgeklammert wurden - und das nicht nur von der EU - aber Entwicklungsländer rund um den Globus. In bester Wettbewerbsmanier sicherten sich die reichsten Staaten den überwiegenden Teil der angekündigten Impfstoff-Lieferungen. Auf internationaler Ebene sucht man Solidarität oft vergeblich.
Interessante Fragen wirft auch das Impfen auf: Sollte man sich - aus denselben solidarischen Gründen, aus denen man die Corona-Regeln befolgt - dem geringen, aber vorhandenen Risiko einer Corona-Impfung aussetzen? Muss man befürworten, dass Geimpfte sobald wie möglich ihre Grundrechte zurückerhalten? Eine Antwort könnte lauten: Solidarische Menschen, für die das Leben in Freiheit eine wichtige gemeinsame Wertvorstellung ist, sollten Freiheiten für Geimpfte unterstützen - auch wenn wir nicht alle direkt davon profitieren. Umgekehrt könnte man auch sagen: Unsere Gesellschaft soll nicht gespalten werden, Gleichbehandlung ist unser wichtigster Wert. Deshalb sollten sich Geimpfte solidarisch verhalten - und weiter die Einschränkung ihrer Grundrechte in Kauf nehmen, bis die Gefahr der Pandemie für alle gebannt ist.
Das könnte man zwar sagen, aber dann verwechselte man Solidarität mit einer abstrakten Gleichbehandlungsmaxime.
Solidarität hat aber - und das ist das Gemeinsame der hier aufgezeigten Beispiele - eine konkrete Zielvorstellung: Ihr geht es darum, dass es den Schwächeren besser geht. Und sind es nicht die Schwächsten unserer Gesellschaft, die jetzt ein paar ihrer Freiheiten zurückbekommen sollen?


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