„Das ist kompletter Schwachsinn“: Viele kritische Stimmen zur Mehrwertsteuersenkung
Der ermäßigte Steuersatz, der vor allem für Lebensmittel gilt, wird von sieben auf fünf Prozent gesenkt. Doch was bringt die Maßnahme den Verbraucher*innen und Gewerbetreibenden tatsächlich und was müssen sie nun besonders beachten? Der ANZEIGER hat sich in der Region umgehört und viele kritische Stimmen eingefangen.
Hoher Aufwand für die Betriebe
„Diese befristete Umstellung ist für viele Betrieben mit erheblichem Aufwand und auch mit Kosten verbunden“, so Arne Reinecker, von der Industrie- und Handelskammer (IHK) Stade. So müssten z. B. Kassensysteme oder ganze Warenwirtschaftssysteme umprogrammiert werden. Das bedeute, dass in der Buchhaltung neue Konten eingerichtet und neue Software installiert werden müsse. Dies sei in vielen Fällen nur von externen Fachleuten durchzuführen. Und dann müsse alles am 1. Januar wieder rückgängig gemacht werden, so Reinecker.
Der Ansprechpartner für Steuern bei der IHK bekomme momentan zahlreiche Anrufe von verunsicherten Gewerbetreibenden, die nicht sicher seien, ob sie die Steuersenkungen an die Kund*innen weitergeben müssen. Zudem gebe es viele Fragen zu Gutscheinen, Anzahlungen, Pfandsystemen oder langfristigen Verträgen.
Es liege im Ermessen der Kaufleute, ob sie die Preise senken oder ihre Marge und damit den Gewinn erhöhen, erklärt Arne Reinecker. Dass die Steuererleichterungen nicht an die Kund*innen weitergegeben werden, sei vor allem in der ohnehin schon stark gebeutelten Gastronomiebranche wahrscheinlich.
Hier gibt es zudem noch eine Besonderheit, die für die Gastwirt*innen noch einmal zusätzlichen Aufwand bedeutet: Dass nämlich in einem halben Jahr aus 5 wieder 7 Prozent und aus 16 wieder 19 Prozent werden, ist in der Gastrobranche anders. Da gilt für servierte Speisen noch für ein weiteres halbes Jahr - bis zum 30. Juni 2021 - der Satz von sieben Prozent, die Getränke werden dann aber wieder mit 19 statt 16 Prozent berechnet. Außerhauslieferungen werden wieder mit sieben Prozent anstatt derzeit mit fünf Prozent besteuert.
Lieferdatum ist entscheidend
Sinnvoll sei die Mehrwertsteuersenkung aus Arne Reineckers Sicht höchstens bei größeren Investitionen wie Küchen, Autos oder Möbeln. Hier sei aber Vorsicht geboten. Wer zum Beispiel ein neues Auto bestellt, müsse genau darauf achten, ob der Wagen noch vor Anfang 2021 lieferbar sei. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Berechnung des richtigen Steuersatzes sei nämlich die Lieferung der Ware oder die Durchführung einer Dienstleistung und nicht das Kauf- oder Rechnungsdatum.
Und beim Hausbau ist es so, dass der Bauherr auf das gesamte Bauvorhaben die Mehrwertsteuer zahlt, die zum Zeitpunkt der Abnahme gilt.
Unsichere Unternehmer*innen
Mit Fragen überhäuft würden derzeit auch Manfred Tiedemann und Manuela Feber von der LPT-Steuerberatungsgesellschaft mit Sitz in der Region. Die beiden Steuerfachkräfte stellen fest, dass viele Unternehmer*innen unsicher seien, wie sie ihre Leistungen nun korrekt berechnen sollen.
Es sei fraglich, ob die Betriebe angesichts des häufig großen Umstellungsaufwands überhaupt von der Steuersenkung profitieren würden, so Feber und Tiedemann. Möglicherweise wäre die Abschaffung des Solidaritätszuschlages eine bessere Alternative gewesen. Zumindest wäre der Verwaltungsaufwand dafür erheblich geringer gewesen.
Edeka-Team hat nun noch mehr Arbeit
Herbert Baake vom Edekamarkt in Vollersode hätte gut auf die Steuersenkung verzichten können. Das Team sei nun insgesamt mindestens zwei Wochen damit beschäftigt, die rund 7.500 Artikel mit neuen Etiketten auszuzeichnen. Von der Möglichkeit, die Rabatte pauschal an der Kasse zu gewähren, wolle man keinen Gebrauch machen. „Der Kunde will doch den Preis direkt wissen und nicht erst an der Kasse“, begründet Herbert Baake die Entscheidung.
Er hätte sich gewünscht, dass statt einer Steuersenkung, die den Kund*innen unterm Strich nicht viel bringe, ein Bonus für die Beschäftigten im Einzelhandel gezahlt worden wäre. „Wir sind seit Beginn der Pandemie Tag für Tag für unsere Kunden da und jetzt haben wir noch mehr Arbeit“, klagt der Unternehmer.
„Kompletter Schwachsinn“
Wer sich im Supermarkt umhört und Verbraucher*innen nach ihrer Meinung fragt, bekommt fast immer die gleiche Antwort: Kleine Einsparungen seien schön, trotzdem lande am Ende doch das gleiche im Einkaufswagen wie vorher, sagt zum Beispiel Lehrerin Carola L. Sie werde ihr Konsumverhalten - auch in Bezug auf größere Anschaffungen - nicht ändern. Rentner Harry T. hält die Steuersenkung gar für kompletten „Schwachsinn“ und fragt sich, was eine Ersparnis von wenigen Cent auf die Produkte unterm Strich bringen soll. Und wer jetzt genug Geld für größere Anschaffungen habe, der sei grundsätzlich auch nicht auf die Steuersenkung angewiesen.
Rechenbeispiel der Verbraucherzentrale
Ein Fernseher, der im Laden für 999 Euro inklusive 19 Prozent Mehrwertsteuer angeboten wird, kostet netto 839,50 Euro. Bei nur 16 Prozent Mehrwertsteuer sollte er nur 973,82 Euro kosten - also gute 25 Euro weniger. Bei einer sehr großen Anschaffung wie z. B. einem Wohnmobil für 45.000 Euro inklusive 19 Prozent Mehrwertsteuer beträgt der Nettopreis 37.815,13 Euro. Bei 16 Prozent Mehrwertsteuer könnte das Wohnmobil somit gut 1.134 Euro weniger kosten.
Die Einsparungen für Alltagseinkäufe wie Brot, Butter, Milch und Käse bewegen sich allerdings nur im Cent-Bereich. Bei einem Lebensmittel-Wocheneinkauf für 150 Euro summiert sich die Ersparnis auf 2,67 Euro.
Nicht betroffen von der aktuellen Steueränderung sind übrigens Miet- und Versicherungsverträge.
Mehrwertsteuer oder Umsatzsteuer?
Die Mehrwertsteuer macht etwa ein Drittel des staatlichen Gesamtsteueraufkommens aus. Im Jahr 2019 kamen von insgesamt knapp 800 Milliarden Euro Steuereinnahmen mehr als 243 Milliarden Euro aus der Mehrwertsteuer. Die Begriffe Umsatz- und Mehrwertsteuer werden übrigens synonym verwendet, wobei der steuerrechtlich korrekte Begriff Umsatzsteuer lautet. Umgangssprachlich hat sich jedoch die Mehrwertsteuer etabliert.