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„Das Grundgesetz schafft Sicherheit“

75 Jahre Grundgesetz: Rechtsanwalt Dr. Tim Jesgarzewski im Interview

(red). Im Interview mit dem Anzeiger erklärt der Rechtsanwalt Dr. Tim Jesgarzewski, welche Bedeutung das Grundgesetz für unser Zusammenleben hat, ob es Aktualisierungsbedarf gibt und warum wir überhaupt ein Grundgesetz brauchen.

 

Herr Dr. Jesgarzewski, Sie sind Rechtsanwalt und haben täglich mit Paragraphen und Gesetzen zu tun. Inwiefern spielt das Grundgesetz bei Ihrer Arbeit eine Rolle?

Das Grundgesetz spielt zwar unmittelbar eher selten eine Rolle in der täglichen Rechtspraxis. Seine Wirkung ist aber gleichwohl kaum zu überschätzen. Das liegt daran, dass die im Grundgesetz festgelegten Grundrechte bei der Auslegung der sonstigen gesetzlichen Regelungen berücksichtigt werden müssen. Das gilt in vielerlei Hinsicht. So sorgt zum Beispiel der Allgemeine Gleichheitssatz dafür, dass Arbeitgeber oder Vermieter genauso wenig diskriminieren dürfen wie der Staat selbst.

 

Können Sie von typischen Fällen berichten, in denen Grundrechte verletzt werden und die dann auf Ihrem Tisch landen?

Insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht spielt in der anwaltlichen Praxis eine große Rolle. Das liegt daran, dass es wegen der ständig weiter voranschreitenden Technik immer leichter möglich ist, in die Rechte eines anderen an dessen Wort, Schrift oder Bild einzugreifen. Weil das Handy immer griffbereit ist, werden häufig Video- oder Audioaufnahmen gemacht. Nicht immer geschieht das einvernehmlich.

 

Das Grundgesetz ist inzwischen 75 Jahre alt. Ist es aus Ihrer Sicht trotzdem noch „in guter Verfassung“ oder müsste der ein oder andere Artikel aktualisiert werden?

Die Gesellschaft wandelt sich. Das ist ein ganz normaler Prozess. Jede Generation entwickelt sich weiter. Das Grundgesetz ist ganz bewusst so formuliert worden, dass zwar die Organisation des Staates als freiheitlich-demokratischer Bundesstaat festschreibt, gleichzeitig aber Auslegungsmöglichkeiten bei der Reichweite von Grundrechten lässt. Nehmen Sie als Beispiel die Gleichstellung von Mann und Frau. Diese steht im Grundgesetz seit 1949, also von Anfang an. Wer daraus aber schließen will, dass dieses Thema heutzutage genauso betrachtet wird wie vor 75 Jahren, dürfte einem kolossalem Irrtum unterliegen. Unabhängig von seiner Beständigkeit gibt es aber auch immer wieder Anpassungen im Grundgesetz. So wurde etwa der Umweltschutz als Staatsziel aufgenommen, um auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen.

 

Warum braucht die deutsche Gesellschaft überhaupt ein Grundgesetz? In Großbritannien gibt es zum Beispiel gar keine schriftliche Verfassung….

In der Tat gibt es die unterschiedlichsten Rechtstraditionen auf der Welt. Dabei ist es entscheidend, dass ein gemeinsamer Wertekanon gefunden wird. Dies ist in großen Teilen der Welt in Bezug auf die Allgemeinen Menschenrechte der Fall. Die Bundesrepublik Deutschland sichert ihre Werte über das Grundgesetz ab. Das hat sich bewährt, wie ein Blick auf die Rechtssicherheit in unserem Land bestätigt. Das Grundgesetz schafft Sicherheit und Belastbarkeit im Hinblick auf ein friedvolles Zusammenleben. Das kann gar nicht hoch genug bewertet werden.

 

Den Artikel 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar…“ kennen wahrscheinlich viele Menschen noch, aber danach lässt bei den meisten das Wissen vermutlich nach. Welcher weniger bekannte Artikel spielt aus Ihrer Sicht für unseren Alltag und unser Zusammenleben außerdem noch eine große Rolle?

Denken Sie an die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Die Menschen in Deutschland haben die unterschiedlichsten Auffassungen. Darüber kann bei uns offen gestritten werden. Das geschieht über vielfältige Medien genauso wie im Rahmen von öffentlichen Demonstrationen. Das ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit im internationalen Vergleich. Oder nehmen Sie als zweites Beispiel den Rechtsstaat als Ganzes. Wer in Deutschland mit einer behördlichen Entscheidung nicht einverstanden ist, hat Zugang zu unabhängigen Gerichten. Privatpersonen und Unternehmen können sich gleichermaßen darauf verlassen, dass ihre Rechtsgüter geschützt sind.

 

Herr Dr. Jesgarzewski, vielen Dank für das Gespräch.

 

Zur Person:

Dr. Tim Jesgarzewski lehrt als Professor für Wirtschafts- und Arbeitsrecht an der FOM Hochschule in Bremen. In dieser Eigenschaft ist er Verfasser zahlreicher Lehrbücher und Fachaufsätze. Zudem ist er als Rechtsanwalt tätig und Mitglied und Vorsitzender verschiedener Aufsichtsräte tätig.


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