Patrick Viol

Bindung zur Freiheit: Gespräch mit Annelie Keil

Osterholz-Scharmbeck. Die Soziologin Annelie Keil kommt am 10. Juni ins Osterholzer Rathaus, um über Freiheit und Bindung zu sprechen. Patrick Viol hat vorab mit ihr über den Zusammenhang dieser unser Leben bestimmenden Begriffe gesprochen.
Den Vortrag: „Freiheit die wir meinen. Bindung, die wir brauchen“ hält Annelie Keil am 10. Juni ab 19 Uhr im Osterholzer Rathaus. Der erhobene Eintrittspreis von 12 Euro wird gespendet.

Den Vortrag: „Freiheit die wir meinen. Bindung, die wir brauchen“ hält Annelie Keil am 10. Juni ab 19 Uhr im Osterholzer Rathaus. Der erhobene Eintrittspreis von 12 Euro wird gespendet.

Frau Keil, in Ihrem Buch Dem Leben begegnen geht es im ersten Kapitel um die Wichtigkeit des Träumens. Schaut man auf die zwei bestimmenden Strömungen im derzeitigen politischen Diskurs, dann gibt es da die wissenschaftlich gestützte Politik und die „Faktenchecker“ auf der einen Seite und die Verschwörungstheoretiker auf der anderen Seite. Beide Seiten eint, dass sie von sich behaupten, von „wachem Geist“ bzw. „aufgewacht“ zu sein. Meine Frage an Sie: Träumen wir zu wenig, um die richtigen Lösungen für unsere Probleme zu finden?
 
In der Politik würde ich nicht von Träumen sprechen, sondern von Visionen. Aber grundsätzlich gilt: Leben ist ohne einen Traum oder eine Vision von Zukunft gar nicht denkbar. Das müssen nicht immer große Träume sein. Die Menschen sind meist von ganz einfachen Wünschen geleitet. Sie wollen frei sein, gerecht behandelt werden, sie wollen beschützt werden. Das wünscht sich im Grunde jedes Kind. Aber dass sie sich erfüllen, dafür gibt es keine Garantien. Deshalb wünschen sie sich vor allem die Sicherheit, dass die Erfüllung ihrer Wünsche eintritt. Darauf sind wir - anders als unsere Groß- und Urgroßeltern - getrimmt. Aber so ein allianzversichertes Leben gibt es nicht.
 
Es treten vielmehr durch beispielsweise Klima- und Wirtschaftskatastrophen nur noch mehr Unsicherheiten und Zerschlagungen von Träumen ein.
 
Richtig, und das ist das politische Problem mit unseren Träumen: Wir träumen nicht zu wenig, sondern wir haben unsere Träume oder Visionen in bloße Sicherheitsversprechen verwandelt und sind dann natürlich umso mehr enttäuscht, wenn manchmal ganz einfache Träume und Visionen sich zerschlagen, wie z. B. die Vorstellung, dass man am Ende seines Lebens von seiner lebenslangen Arbeit leben kann. Aber das Leben hat uns nichts versprochen.
 
Der letzte Satz klingt hart.
 
Ja, aber das Leben hält auch viel. Jedoch nur das, was wir selbst zusammen mit anderen auf die Beine stellen. Wir haben nichts anderes als das Geschenk der nackten Geburt. Und dann kommt es darauf an, etwas daraus zu machen. Der Wunsch oder die Vision, dass jemand kommt und uns die Selbstverantwortung abnimmt, ist unwahr.
 
Es klingt so, also ob wir uns zu sehr auf Sicherheitsversprechen eingeschossen hätten und darüber unfähig geworden wären, Unsicherheit auch als Freiheit zu begreifen, unser Leben zu gestalten.
 
Ja, aber damit man Unsicherheit auch als Freiheit wahrnehmen kann, bedarf es einer grundsätzlichen Eingebundenheit, die es ermöglicht, dass wir uns in unsere Freiheit hineinentwickeln.
 
Damit kommen wir direkt zu dem Titel ihres Vortrages, den Sie in Osterholz halten werden: Freiheit, die wir meinen. Bindung, die wir brauchen. Ich habe beim ersten Lesen gedacht, dieser Titel würde darauf hinausgehen wollen, dass wir den Begriff der Freiheit gegenüber dem der Bindung überbewerten und der entscheidendere der der Bindung wäre. Aber es geht ihnen darum, dass der eine nicht ohne den anderen Begriff zu haben ist, richtig?
 
Genau. Es ist eine Doppeltheit. Freiheit ist kein freischwebender Gedanke, dessen Inhalt je nach Laune durch Zuruf gefüllt werden kann. Er ist kein Wert, der ohne andere Werte auskommt. Freiheit hat man nicht ohne Gerechtigkeit, ohne Geschwisterlichkeit, ohne Verantwortung und auch nicht ohne den Schutz des Lebens - also nicht ohne Bindung. Das Menschenrecht auf Freiheit hat andere Rechte im Gepäck. Die Freiheit des Einzelnen wird eingebettet in eine Pflicht. Darum geht es mir. Nicht um ein Entweder/Oder. Ich würde nicht einseitig für Eingebundenheit und Solidarität plädieren. In einer Demokratie brauchen jene Werte auch den Wert der Freiheit. Wichtig wird dann aber die Frage: Welche Vorstellung, welche Vision von Freiheit - von Freiheit für mich und andere - soll zum Tragen kommen?
 
Wenn es Ihnen um eine konkrete Bestimmtheit von Freiheit durch den Begriff der Bindung geht, trägt ein solcher Begriff der Freiheit sicherlich den der Achtung in sich. Wie würden Sie dann aber den Begriff der Bindung bestimmen?
 
Die Bindung ist das Fundament. Wenn Kinder keine Bindung zu ihren Eltern erfahren, dann sind sie seelisch hoch gefährdet, ebenso sozial. Das heißt, Leben ist strukturell - naturwissenschaftlich wie ethisch - auf den anderen angewiesen. Jeder wird in Bindungen hineingeboren. Die erste Sozialwohnung ist der mütterliche Leib. Leben ist eine Sozialgemeinschaft, in der aber die Freiheit des Individuums unantastbar wichtig ist.
 
Die Bindung, um die es Ihnen geht, muss also so gestaltet sein, dass sie am Ende die Freiheit des Individuums ermöglicht, richtig? Denn die Wichtigkeit von Bindung als solche bzw. deren behaupteter Verlust wird ja auch vor allem auch von regressiven, rechtsextremen politischen Bewegungen als Agitationsbegriff herangezogen.
 
Absolut. Das Versprechen von Bindung an sich ist ja einer der großen Feinde der Freiheit, aber auch des Lebens. Ich argumentiere ja dafür, dass das Leben Freiheit und Einbindung braucht. Ich brauche Freiheit und meinen Schutz; meine Einbindung, die mir aber meine Freiheit garantiert. Eltern beispielsweise, die ihre Kinder als ihr Eigentum begreifen, schenken keine Bindung zur Freiheit. Unsere Kinder sind uns geliehen. Sie sind uns - ebenso wie alte Menschen - anvertraut, dass sie das lernen und das bekommen, was sie brauchen, um ein freies Leben als Subjekt zu führen.
 
Wenn Sie sagen, Kinder sind nicht unser Eigentum, dann könnte man doch auch zugespitzt sagen, dass auch zu starke Bindungen zwischen Eltern und ihren Kindern verhindern, dass Kinder zum Subjekt werden können und sich stattdessen Kritiklosigkeit und regressiven Gemeinschaftsversprechen hingeben?
 
Das ist genau der kritische Punkt: Bindung kann - wie die Freiheit - missbraucht werden. Die Bindung ist zum einen lebensnotwendig für die Freiheit und gleichzeitig kann sie Freiheit gefährden, wenn sie überwältigend wird.
 
Der Begriff der Bindung spielt bei Ihnen also nicht nur innerhalb einer Familienkonstellation eine Rolle, sondern zielt im Grunde auf die Einrichtung unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, die so gestaltet werden müssen, dass der Einzelne sich seiner Freiheit und dem Umgang mit anderen Menschen auf eine solidarische, geschwisterliche Weise stellen kann.
 
So ist es.
 
Kommen wir zum Schluss zu einem Begriff, den Sie auch in ihrem Buch Dem Leben begegnen zu entfalten suchen und der nach Ihren Ausführungen meines Erachtens ein gelungenes Verhältnis von Bindung und Freiheit beschriebe: zum Begriff des wahren Lebens. Was heißt für Sie ein solches Leben konkret?
 
Ich habe diesen Begriff gewählt, weil Wahrheit und Wahrhaftigkeit zum einen eine Grundlage für Geschwisterlichkeit und Gerechtigkeit ist. Zum anderen - so hat es Theodor W. Adorno in seiner Minima Moralia geschrieben - gibt es kein wahres Leben im falschen. Das heißt, ein wahres Leben wäre eines, in dem ich vertrauen kann, wo ich Gerechtigkeit erfahre, in dem die anderen mich als Menschen achten. Aber - und das ist der Gedanke Adornos - wenn es nur mir so geht, ist es ein relativ wahres Leben. Wahr ist ein solches Leben erst in Gänze, wenn alle Menschen ein solches Leben führen können.
 
Müsste dazu die Menschheit nicht erst zu einer Einheit werden?
 
Das ist in dem Sinne wahr, als dass wir uns auf gewisse Grundlagen einigen müssten. Aber darüber hinaus müssten wir die Welt als eine Vielheit anerkennen. Das heißt zum Beispiel, dass wir davon Abstand nehmen müssen, z. B. durch Krieg unsere Demokratie in andere Länder zu importieren, weil wir glauben, die wollten doch alle. Das ist ein Irrtum.
 
Ich denke auch, dass der Export von Demokratie durch Krieg nur einmal in der Geschichte gelungen ist und zwar in Deutschland. Aber könnte man sich nicht kontrafaktisch, in Anbetracht, dass die Menschheit faktisch durch verschiedene Kulturen in eine unversöhnte Vielhalt zerfallen ist, politisch von der Hoffnung leiten lassen, dass sie sich einen könnte?
 
Absolut. Menschenrechte bleiben Menschenrechte. Aber das heißt nicht, dass alle Menschen auf eine einheitliche Weise glücklich werden.
 
Haben Sie vielen Dank für das spannende Gespräch, Frau Keil.
 
Ich danke auch.
  


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