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Asozial und ökologisch blind

Der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen, Professor Rudolf Hickel, klärte in einem Vortrag in der Ratsdiele über irrationale Paradigmen der Marktwirtschaft auf.

Wenn die unsichtbare Hand des Marktes zugreift, fasst sie sozial daneben - Professor Rudolf Hickel sprach in Worpswede über die Unvernunft der Wirtschaftspolitik.

Wenn die unsichtbare Hand des Marktes zugreift, fasst sie sozial daneben - Professor Rudolf Hickel sprach in Worpswede über die Unvernunft der Wirtschaftspolitik.

Bild: Uni Bremen

Worpswede. In Hickels Vortrag - wie auch im Buch „Gewinn ist nicht genug - 21 Mythen über die Wirtschaft, die uns teuer zu stehen kommen“, das der Wirtschaftswissenschaftler 2021 mit seinen Kollegen Johann-Günther König und Hermannus Pfeiffer veröffentlichte - dreht sich alles um ökonomische Mythen. „Mythen sind Narrative, die zur Erklärung dienen, mit der Realität aber nichts zu tun haben“, erklärt Professor Hickel eingangs. „Zum Beispiel die Schöpfungsgeschichte oder: Wenn die Löhne steigen, kriegen wir Inflation.“ Es handele sich bei Mythen jedoch nicht um stumpfe Lügen oder Fake News. Zu einem ausgewachsenen Mythos gehöre immer eine komplexere Theorie, ein Paradigma. Diese gemeinsamen Vorstellungen über die Funktionsweise der Welt würden ständig reproduziert, etwa von Arbeitgeberverbänden und anderen „Ideologieproduzenten“. Um Mythen als solche zu entlarven, müsse man ihre Voraussetzungen prüfen.

 

„Wirtschaftsjournalismus ist eine Katastrophe“

 

In dieser Hinsicht sei von den Wirtschaftswissenschaften in Deutschland nicht viel zu erwarten: „Wichtige wirtschaftliche Zusammenhänge werden monokausalistisch reduziert und teilweise extrem interessenbestimmt gelehrt“, beklagt Hickel. Außerdem: „Was wir zur Zeit erleben, kommt in keinem Lehrbuch vor.“

Auf die vierte Gewalt im Staat will der Ökonom sich ebenfalls nicht verlassen: „Der Wirtschaftsjournalismus in Deutschland ist eine absolute Katastrophe. Es gibt kaum noch kritisches Potenzial in den Zeitungen, es wird kaum überhaupt das Wort Kapitalismus in den Mund genommen.“

So haben es sich Hickel und einige Kollegen, die 1971 die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik gründeten, zur Aufgabe gemacht, die neoliberalen Mythen zu kritisieren und den Diskurs auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Aus der Corona-Krise habe man in Deutschland einiges gelernt, so Hickel. „Die Frage, die mich umtreibt, ist: Wie lange hält es an?“

 

Der Markt regelt es nicht

 

Da sei zum Beispiel die Erkenntnis, dass die uralte Idee der unsichtbaren Hand des Marktes - anders formuliert: der Markt wird es schon richten -, die auf den britischen Ökonom Adam Smith zurückgeht, in Wirklichkeit nicht so ganz hinhaut bzw. gemeinwohlorientiert zupackt. „Die Grundversorgung kann nicht marktwirtschaftlich organisiert werden.“ Besonders im Bereich der Gesundheitsversorgung habe man beobachten können, wie der Staat einspringen musste, um Probleme zu lösen, auf die die Märkte keine Antwort hatten.

Überhaupt sei die Metapher aus dem Kontext gerissen und von Anfang an falsch verstanden worden. „Adam Smith ist Opfer seines eigenen Mythos geworden“, sagt Hickel. „Wenn man seine Philosophie liest, steht da eine ganz andere Botschaft drin.“ Smith habe sich etwa vorgestellt, der wirtschaftliche Konflikt der Interessen fände in einem Klima der Sympathie statt - vor diesem Hintergrund klingt die Idee, die gesamte Gesellschaft profitiere letztendlich vom eigennützigen Handeln Einzelner, schon ein wenig anders.

„Smith hat auch ein Buch über den Staat geschrieben, das hat fast niemand gelesen. Da steht ganz klar drin: Bildung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und darf nicht der Privatwirtschaft überlassen werden.“ Außerdem sei der „ökonomische Luther“, wie Smith einmal von Friedrich Engels genannt wurde, ein Gegner des entfesselten Bankensystems gewesen und habe darin eine Gefahr für den Staat gesehen.

 

„Ludwig Erhard hat sich geirrt“

 

Nicht nur bei Gesundheit oder Bildung versage der freie Markt, auch die soziale Ungleichheit könne der Wettbewerb nicht lösen. „Ludwig Erhard hat sich mit seinem Titel ‚Wohlstand für alle‘ geirrt: Es gibt im Kapitalismus keinen Wohlstand für alle“, sagt Hickel. „Der fällt nicht vom Himmel, er wird nicht endogen vom Markt produziert.“ Ihn herzustellen, sei Aufgabe der Politik. Denn - wie Hickel mit den Worten des berühmtesten Vertreters des Liberalismus der Nachkriegszeit, mit Milton Friedman sagt -: „Die Märkte sind asozial.“

Und nicht nur das, sie seien zudem auch ökologisch blind und damit unfähig, die größte Aufgabe unserer Zeit, den ökologischen Umbau der Wirtschaft, zu lösen. Dass dieser trotzdem möglich sei, insofern der politische Wille existiere, zeigt Hickel am Beispiel von Arcelor Mittal: „Von der größten CO2-Dreckschleuder zu Wasserstoff-Technik, ein milliardenschwerer Umbau. Das ist die Aufgabe.“ Wenn in diesem Zusammenhang behauptet werde, Deutschland „deindustrialisiere“ sich, könne er sich nur an den Kopf fassen, sagt Hickel. „Deutschland deindustrialisiert sich nicht, wir sind im Prozess der schöpferischen Zerstörung“, bedient sich Hickel bei Joseph Schumpeter, um den Transformationsprozess zu veranschaulichen.

 

Ohne Staat gehts schief

 

Ein Prozess, der im Übrigen nur mit Schulden finanzierbar sei. „Wir müssen endlich begreifen, dass die Finanzierung über öffentliche Kredite für zukunftsweisende Investitionen zugelassen werden muss.“ Dies werde immer wieder als „mieses Erbe“ für zukünftige Generationen denunziert. „Wenn wir heute nicht investieren, vererben wir eine völlig kaputte Umwelt“, skizziert Hickel die wenig vielversprechende Alternative. Eine Ansicht, die auch das Bundesverfassungsgericht teilt.

Der Staat muss intervenieren, sonst läuft es schief: Zu diesem Punkt kommt Hickel immer wieder. Doch an den jüngsten Entscheidungen der gewählten Volksvertreter:innen lässt der Wissenschaftler auch kein gutes Haar: „Die Politik macht schwere Fehler“, sagt Hickel und meint unter anderem das Gebäudeenergiegesetz vom Grünen-Wirtschaftsminister Robert Habeck. „Das Soziale hinterher regeln geht nicht“, kritisiert Hickel. „Wir müssen bei allem, was wir tun - auch bei der ökologischen Politik - die soziale Gestaltung beachten.“ Beim Heizungsgesetz sei dies zu kurz gekommen.

 

Angebotskrise

 

Auch politisches und staatliches Handeln sei mitunter von Mythen und irreführenden Paradigmen bestimmt. Hickel nennt die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank als Beispiel. „Dahinter steht die Annahme: Inflation ist immer hausgemacht durch hohe Nachfrage.“ Nun handele es sich bei der aktuellen Krise jedoch um eine „importierte, angebotsorientierte Inflation“, maßgeblich getrieben von gestiegenen Energiepreisen. Die Entscheidung der Bundesregierung, kein Gas mehr aus Russland zu beziehen, begrüße er aber nach wie vor, sagt Hickel. Aber: „Die Notenbank kann das nicht bekämpfen. Die EZB hat in neun Schritten den Leitzins erhöht. Die Energiepreise hat das nicht gesenkt“, führt Hickel aus. Der Kurs der Zentralbank führe stattdessen zu Kollateralschäden, weil kreditfinanzierte Investitionen zurückgingen. Obwohl die Notenbank nicht über geeignete Mittel verfüge, der Krise zu begegnen, werde sie mit großem öffentlichen Druck zum Handeln gezwungen. „Das zeigt unsere irrationale Wirtschaftspolitik.“

Von alleine werden die zahlreichen Mythen der Wirtschaft wohl nicht verschwinden. Denn sie dienten nicht nur der Erklärung, sondern letztlich auch der Legitimation von Herrschaft in einem Wirtschaftssystem, dem ein zentraler Widerspruch und Interessengegensatz von Kapital und Arbeit zugrunde liege. „Und da wird es gefährlich“, sagt Hickel. Man müsse sich entscheiden: „Entweder mache ich das zum Thema und rede über Mythen oder ich pflege die Mythen.“

 

Seinen Vortrag hielt Prof. Dr. Rudolf Hickel im Rahmen der Podium-Worpswede-Vortragsreihe: „radikal - Gespräche über Kunst und Gesellschaft“ in der Worpsweder Ratsdiele.


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