Aphantasie: Kunst ohne Kopfkino
Albert Einstein zufolge ist Phantasie „wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt.“ Künstler:innen, Designer:innen, Filmemacher:innen und Architekt:innen nutzen für ihren Beruf vor allem die Fähigkeit des Visualisierens, um die eigene Phantasie zu beflügeln. Mentale Bilder vor dem geistigen Auge hervorzurufen, ist für über 97% der Menschheit selbstverständlich. Innerhalb dieser Gruppe stechen Synästheten wie Albert Einstein oder Wassily Kandinsky hervor. Während der Phantast Kopfkino schaut, findet im Kopf des Synästheten sprichwörtlich eine Party der Sinne statt. So haben beispielsweise Zahlen eine eigene Farbe, einen Geruch und/oder Geschmack. Synästhesie ist in der Kunst und Musik ein bekanntes Phänomen. Es ist ein Phänomen abseits der Norm, das besonders an Kunst- und Musikhochschulen gehäuft zu beobachten ist.
Ein Leben ohne innere Bilder
Nahezu unbekannt ist das Phänomen der inneren Blindheit, das weniger als 3% der Weltbevölkerung betrifft und den Betroffenen oft sehr spät oder gar nicht bewusst wird. Diese Menschen leben ohne Kopfkino. Es fehlt die Gabe der visuellen Vorstellungskraft. Wenn die verschiedenen Phantasiewelten aufeinandertreffen, herrscht Verwirrung auf allen Seiten. Ein Phantast oder gar Synästhet kann sich die schwarze Leere im Kopf des sogenannten Aphanten nicht vorstellen. Einem Aphanten wird schlimmstenfalls in diesem Moment bewusst, dass „Schäfchen zählen“ keine Metapher ist.
Ein Leben ohne mentale Vorstellungskraft bedeutet auch, keine bildlichen Erinnerungen vor dem geistigen Auge hervorrufen zu können. Die für das kognitive Vorstellungsvermögen notwenigen Gehirnareale sind hier nicht entsprechend vernetzt. Stattdessen funktioniert das Gehirn eines Aphanten vor allem über Sprache und Emotionen. Viele Betroffene berichten auch von einer stark ausgeprägten körperlichen Wahrnehmung.
Vom Phänomen der inneren Blindheit können sogar noch weitere Sinne wie der Geruch, der Geschmack oder das Gehör betroffen sein. Was bislang nicht erklärt werden konnte, ist die Tatsache, dass Menschen mit Aphantasie durchaus träumen können - nur eben nicht im Wachzustand.
Der Forschungsstand
Obwohl das Phänomen bereits seit 1880 durch Francis Galton bekannt ist, steckt die Aphantasie-Forschung noch in den Kinderschuhen. Erst im Jahr 2015 wurde der Stein ins Rollen gebracht, nachdem der Neurologe Dr. Adam Zeman von der University of Exeter einen Fall in der New York Times veröffentlichte, bei dem ein Mann durch eine Operation seine mentale Vorstellungskraft verloren hatte. Nicht jede Aphantasie ist demnach angeboren. Warum die neuronalen Netze im Gehirn der betroffenen Personen nicht zusammenarbeiten, ist bislang nicht geklärt. Hoffnung gibt die im Januar 2019 in Toronto gegründete Organisation Aphantasia Network, das hierzu weltweit erste globale Forschungsprojekt. Hier berichten u. a. Künstler:innen, Illustrator:innen und Autor:innen, wie sie trotz bzw. mit Aphantasie kreativ tätig sind. Das Projekt wird u. a. von Adam Zeman begleitet und widmet sich mittlerweile auch dem gegenläufigen und bislang ebenso wenig erforschten Phänomen der Hyperphantasie. Darüber hinaus gibt es eine Bewegung in den sozialen Medien, insbesondere im englischsprachigen Raum, die auf das Phänomen der fehlenden Bilder im Kopf aufmerksam machen möchte. Da das bildliche Vorstellungsvermögen auch entscheidend am Prozess des Lernens beteiligt ist bzw. viele Methoden auf der Visualisierung basieren, ist das Wissen über ein mögliches Defizit nicht unerheblich. Laut Wissenschaft sollten speziell für betroffene Schüler:innen langfristig alternative Lernmethoden entwickelt und in Betracht gezogen werden. Eine Auswirkung auf die Intelligenz hat die innere Blindheit jedoch nicht.
Kein Mangel an Kreativität
Ein Leben ohne Kopfkino bedeutet nicht automatisch ein Mangel an Kreativität. Die Betroffenen nutzen nicht nur spezielle kreative Methoden, sondern auch andere Hirnareale: Aphanten stützen sich auf harte Fakten. Sie nutzen Techniken, die auf Sprache basieren, arbeiten mit Fotos zur Orientierung und der Technik der Collage oder lassen ihre Ideen direkt auf einem weißen Blatt Papier entstehen. Auch innerhalb dieser Minderheit abseits der Norm befinden sich herausragende Bestsellerautor:innen, Illustrator:innen und Künstler:innen. Bei der letzten Gruppe fällt auf, dass viele fotorealistisch malen oder zeichnen. Das weltweit bekannteste Werk eines Aphanten stammt von Glen Keane: Es ist die Figur von Walt Disneys Arielle. Und auch Edwin Catmull, der Mitbegründer von Pixar Animation Studios und vierfache Oscarpreisträger, hat entscheidende Entwicklungen in der Computergrafik hervorgebracht - und das ganz ohne Kopfkino.