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Patrick Viol

Alltag und Grauen - Imre Kertész Roman eines Schicksallosen

(pvio). Der kommende 8. Mai ist der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Befreit wurden die Häftlinge in den Konzentrationslagern. Imre Kertész war einer von ihnen, sein Roman entspricht jedoch nicht der sogenannten „Opferliteratur“ der Nachkriegszeit.
Der Roman eines Schicksallosen erzählt zwar die Geschichte eines 15 jährigen Jungen, der nach Auschwitz deportiert wurde, verzichtet dabei aber auf bedeutungsgeladene Metaphern und moralische Anklagen, wie es im Kanon der Shoaliteratur weit verbreitet ist. (Was nicht gegen sie spricht.) Kertész bedient sich einer so naiven wie schonungslosen Sprache, eben der eines unbedarften Jugendlichen.
So beschreibt Kertész Auschwitz nicht als Hölle, sondern als aufregungsloses Alltagsgeschehen, das, im Gegensatz zur Hölle, äußerst langweilig sein könne. Dem Protagonisten György Köves erscheinen die Schornsteine nicht als phallische Symbole eines übermächtigen Grauens, so wie sie heute in den Klischeebestand des gemeinen Gewissens eingegangen sind, sondern schlicht als Teile einer profanen Fabrik.
Diese um Bildgewalt reduzierte Sprache, ihre dokumentarisch-distanzierte Form beschreibt nicht nur den Unterschied zum Kanon, sondern war einer der primären Gründe, warum Kertész Roman nach Erscheinen 1990 von manchen totgeschwiegen, von anderen skandalisiert wurde. Ihm wurde gar der Vorwurf der Relativierung der Gräuel in den Lagern gemacht. Tatsächlich aber ist es gerade Kertész’ Alltag und Vernichtung ununterscheidbar werden lassende Sprache, die das ganze Ausmaß des Grauens im nationalsozialistischen KZ zum Ausdruck bringt: Das sprachlich erzeugte Nebeneinander von Alltag und antisemitischer Vernichtung zeigt die zwar vollkommen absurde, aber im KZ praktisch vollzogene Aufhebung der Grenze zwischen Leben und Tod. Hier lebten Menschen ohne Schicksal, ohne individuelle Tragödie, wie Kertész die Bedeutung seines Titels erklärt. Ihre Leben waren vom Tod totalitär determiniert. Im KZ lebten tote Menschen.
Unbedingt lesenswert und spannend macht Kertész Roman aber nicht nur die sprachlich vermittelte Erfahrung der spezifischen, perfiden Gewalt im KZ, sondern ebenso Kertész Weigerung, die Identität von Leben und Tod für sich anzunehmen und - trotz allem - auf der Möglichkeit von individuellem Glück zu bestehen.


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