

Seitdem das Bundesamt für Verfassungsschutz die gesamte AfD als „gesichert rechtsextremistisch“ eingestuft hat, ist die blaue Partei wieder einmal in aller Munde. Während sowohl politische Mitbewerber als auch zivilgesellschaftliche Akteure fordern, die Einstufung müsse politische Folgen - soll heißen: ein Verbotsverfahren - haben, wehrt sich die AfD per Klage gegen den Beschluss. Nun hat der Verfassungsschutz eine sogenannte „Stillhaltezusage“ abgegeben: Bis ein Gericht über die Rechtmäßigkeit des über 1000 Seiten starken Gutachtens, das der AfD eine rechtsextreme Gesinnung bescheinigt, entscheidet, wird das Bundesamt seine Einstufung nicht öffentlich wiederholen. Vom Tisch ist das Thema damit noch lange nicht. Schon der (Rechts-)Streit um die Beobachtung der AfD als „Verdachtsfall“ dauerte mehrere Jahre, letztlich entschied das Oberverwaltungsgericht in Münster im Sinne des Verfassungsschutzes und erklärte dessen Einstufung für gültig.
Beobachtung ist nicht gleich Verbot
Dass auf die Bekanntgabe der neuen Einstufung durch die ehemalige Innenministerin Nancy Faeser (SPD) - kritische Stimmen unterstellen ihr angesichts dieser letzten Amtshandlung strategisches Kalkül - eine erneute Diskussion um ein Parteiverbot folgen würde, war abzusehen. Zwingend ist die Debatte jedoch keineswegs, denn es geht um zwei ganz unterschiedliche Prozesse: Der Verfassungsschutz ist der deutsche Inlandsgeheimdienst und sammelt in dieser Funktion unter anderem Informationen über mögliche Gefahren für die freiheitlich demokratische Grundordnung. Das Parteiverbotsverfahren, das in Artikel 21 des Grundgesetzes beschrieben wird, ist hingegen ein politischer und juristischer Prozess. Nur, weil der Verfassungsschutz die AfD für rechtsextrem hält, muss nicht automatisch ein Verbot geprüft werden.
Für dieses Verfahren ist einzig und allein das Bundesverfassungsgericht zuständig. Es kann allerdings - wie üblich - nicht von selbst tätig werden, sondern muss von der Exekutive oder Legislative angerufen werden. Bundestag oder Bundesrat können mit einer absoluten Mehrheit einen solchen Antrag stellen. Von Seiten der Regierung reicht ein Kabinettsbeschluss, um die Richter:innen in Karlsruhe zur Prüfung des Verbots zu veranlassen.
Parteiverbot als schwerwiegender Eingriff
Das Parteiverbot ist ein besonders drastisches Mittel der wehrhaften Demokratie, schließlich greift es tief in den Prozess der politischen Meinungsbildung ein. Entsprechend geht das Bundesverfassungsgericht nicht leichtfertig mit einer solchen Entscheidung um. 1952 wurde die Sozialistische Reichspartei (SRP) - ein Sammelbecken für rechtsextreme Kräfte in der Nachkriegszeit - verboten, 1956 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Zwei Verbotsverfahren gegen die NPD in der jüngeren Vergangenheit scheiterten. Im ersten Anlauf im Jahr 2003 mussten die Karlsruher Richter:innen Verfahrensfehler feststellen. 14 Jahre später wurde das Verbot erneut abgelehnt. Im Zuge des jüngsten Urteils schärfte das Bundesverfassungsgericht auch seine ständige Rechtsprechung zum Thema Parteiverbot nach.
Nach dem Urteil vom 17. Januar 2017 reicht es für ein Verbot nicht aus, dass eine Partei lediglich eine verfassungsfeindliche Gesinnung äußert. „Hinzukommen müssen eine aktiv kämpferische, aggressive Haltung gegenüber der freiheitlich demokratischen Grundordnung, auf deren Abschaffung die Partei abzielt, sowie konkrete Anhaltspunkte dafür, dass ein Erreichen der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele nicht völlig aussichtslos erscheint“, so die Kernaussage des Urteils. Nur wenn eine Partei systematisch und zielgerichtet an der Abschaffung der Demokratie arbeitet und eine realistische Aussicht auf Erfolg hat, kann sie verboten werden. Dieses Potenzial sei bei der NPD nicht zu erkennen gewesen.
Gesinnung reicht nicht
Wie das Verfahren im Fall der AfD ausgehen könnte, ist ungewiss. Das Gutachten des Verfassungsschutzes ist zwar kein direkter Anlass, ein Parteiverbot zu prüfen - könnte jedoch in einem Verfahren als Beweismittel herangezogen werden. Das zunächst geheim gehaltene Dokument, das inzwischen vom Magazin Cicero und Julian Reichelts Onlinemedium „Nius“ veröffentlicht wurde, lässt an der Gesinnung der AfD keinen Zweifel. Die Partei vertrete einen „ethnisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff“, der darauf abziele, beispielsweise Deutsche mit Migrationsgeschichte von der gesellschaftlichen Teilhabe auszuschließen. Das sei mit der Menschenwürde, die im Grundgesetz einen herausgehobenen Stellenwert genießt, nicht vereinbar. Für den Verfassungsschutz ist das Anlass genug, die AfD noch genauer zu beobachten. Als Nachrichtendienst ist es seine Aufgabe, mögliche Gefahren frühzeitig zu erkennen und einzuordnen.
Wie das Bundesverfassungsgericht nun den Willen und das Potenzial der Alternative für Deutschland, tatsächlich planmäßig die demokratische Grundordnung zu bekämpfen, bewerten würde, bleibt offen. Anders als die NPD verfügt die Partei jedenfalls über beachtliche Ressourcen: Sie ist zweitstärkste Kraft im Bundestag (mit weiter steigenden Umfragewerten), hat professionelle Strukturen aufgebaut und ist auch mit außerparlamentarischen Rechtsextremen vernetzt.
Demokratieverständnis auf dem Prüfstand
Sollte es zu einem Antrag auf ein Verbotsverfahren kommen, muss das Bundesverfassungsgericht über nicht weniger als das Demokratieverständnis der Bundesrepublik Deutschland entscheiden. Denn die Entscheidung, ob eine Partei wie die AfD vom politischen Wettbewerb ausgeschlossen werden darf, ist auch eine Entscheidung darüber, was Demokratie leisten soll, darf und muss. Aus einer radikal-liberalen Perspektive gilt: Demokratie heißt Pluralismus – und dieser kennt keine inhaltlichen Vorbedingungen außer dem Gewaltverzicht. Jede Verzerrung des politischen Wettbewerbs durch staatliche Eingriffe wird hier als Gefahr für die Meinungsfreiheit und die Legitimität des demokratischen Prozesses betrachtet. Auch eine extremistische Partei muss sich stellen dürfen - im offenen Diskurs, in Wahlen, auf dem Marktplatz der Argumente.
Andere Demokratietheorien setzen jedoch nicht bei der Mehrheit, sondern bei den Grundlagen des Gemeinwesens an. Für sie ist Demokratie mehr als die Summe von Stimmen: Sie basiert auf unveräußerlichen Grundrechten - wie Menschenwürde, Gleichheit, Schutz vor Diskriminierung -, die im Namen der Mehrheit nicht verletzt werden dürfen. Wer diese Prinzipien angreift oder systematisch untergräbt, stellt sich außerhalb des demokratischen Konsenses. Deliberative Demokratietheoretiker wie Jürgen Habermas messen mit dem Maß der Vernunft: Demokratie lebt nicht vom bloßen Abstimmen, sondern von vernunftgeleiteter Kommunikation. Nur Positionen, die sich am besseren Argument orientieren, gelten als demokratiefähig. Wer - wie es der Verfassungsschutz der AfD vorwirft - durch Lügen, gezielte Desinformation und die Verächtlichmachung politischer Gegner systematisch den öffentlichen Diskurs beschädigt, kann keine demokratische Legitimation beanspruchen. In dieser Sicht ist der Ausschluss solcher Akteure kein Missbrauch, sondern Verteidigung demokratischer Öffentlichkeit.
Der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel warnt hingegen vor dem Verlust demokratischer Repräsentation. Ein Verbot der AfD, so seine Argumentation, würde bedeuten, dass mindestens 20 Prozent der Wählerinnen und Wähler politisch übergangen würden. Das sei mit dem demokratischen Grundprinzip des Pluralismus kaum vereinbar. Darüber hinaus müssten sich die übrigen Parteien den Vorwurf gefallen lassen, ihren unliebsamen Mitbewerber nicht im politischen Wettbewerb - der immer weniger zu ihren Gunsten verläuft - sondern mit juristischen Mitteln zu beseitigen versuchen. In autoritären Regimen sei das an der Tagesordnung. Auch aus pragmatischer Sicht äußert Merkel Zweifel: Ein Verbot könnte die Partei nicht zum Verschwinden bringen, sondern ihre Anhängerschaft radikalisieren oder in andere Kanäle lenken.
Risiko oder Chance?
Diese Gefahr sehen auch die Mitglieder der verschiedenen Parteien vor Ort. „Es besteht die Gefahr, dass sich Teile der Anhängerschaft weiter radikalisieren, den Staat als Feind betrachten und dies zu einer Zunahme von Wut oder gar Gewalt führen kann“, sagt Lukas Hinz vom SPD Unterbezirk Rotenburg (Wümme). Wie die meisten unserer Gesprächspartner aus der Kommunalpolitik befürwortet er ein Verbotsverfahren gegen die AfD. „Eine wehrhafte Demokratie muss eine wirkmächtige rechtsextreme Partei vom Spielfeld nehmen“, meint auch Brigitte Neuner-Krämer (Grüne Osterholz-Scharmbeck).
„Sicher birgt ein Verbotsantrag das Risiko, dass er beim Verfassungsgericht scheitern könnte. Das Risiko jedoch, einer rechtsextremen verfassungsfeindlichen Partei freie Bahn zu lassen, ist vor dem Hintergrund unserer Geschichte deutlich höher“, so Neuner-Krämer weiter. Stefan Klingbeil (Die Linke Rotenburg) will von Risiken nichts hören - für ihn ist das Verbotsverfahren eine Chance: „Ich sehe darin die Chance, dass die stärkste rechtsextremistische Kraft in Deutschland verboten werden könnte. Das wäre eine Zerschlagung der zurzeit gefährlichsten Organisation, die zunehmend unsere innere Sicherheit gefährdet.“
Dass die AfD einen erheblichen Teil der Wählerstimmen gewinnen konnte, spricht aus Sicht der übrigen Parteien nicht gegen ein Verbot: „Demokratie bedeutet nicht nur Mehrheitsentscheidungen, sondern auch den Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung. Parteien, die diese Grundordnung bekämpfen – wie es bei der AfD durch zahlreiche Aussagen und politische Konzepte erkennbar ist – dürfen trotz Wahlerfolgen nicht unbegrenzt am politischen Wettbewerb teilnehmen“, erklärt Lukas Hinz. Auch Stefan Klingbeil positioniert sich klar auf der Seite der wehrhaften Demokratie. „Wenn meine Linkspartei jetzt durchdrehen würde und die Abschaffung der Demokratie in Deutschland zum Ziel erklärt, dann möchte ich, dass der Rechtsstaat sich da zur Wehr setzt - auch durch mögliche Verbote.“
„Der beste Schutz ist eine gerechte Gesellschaft“
Für Marie Jordan sind Wahlergebnisse ebenfalls kein zwingendes „Indiz für Verfassungstreue“. Die CDU-Ratsfrau aus Osterholz-Scharmbeck lehnt das AfD-Verbot jedoch ab. „Zum aktuellen Zeitpunkt würde ich ein Verbotsverfahren gegen die AfD nicht unterstützen. Für ein Parteiverbot gibt es – zu Recht – sehr hohe Hürden.“ Sie glaube außerdem, dass die Wählerschaft der AfD „nicht geschlossen rechtsextrem“ sei. „Viele Wähler der AfD wählen diese nicht wegen ihrer Inhalte, sondern aus einem Gefühl der Unzufriedenheit mit der aktuellen Politik heraus.“ Bei Themen, die sich die AfD auf die Fahnen geschrieben habe, sei es den übrigen Parteien nicht gelungen, Lösungen zu finden. Hier brauche es jetzt eine „sachliche Debatte ohne Tabuisierung“. Konkret nennt Jordan „ein restriktiveres Vorgehen gegen illegale Migration und die Ausnutzung unseres Sozialsystems“. Außerdem müsse die heimische Wirtschaft entlastet werden. Würden diese Ziele „konsequent politisch umgesetzt“, werde das „Protestangebot der AfD“ bald überflüssig, ist die CDU-Politikerin überzeugt.
Philipp Schübel aus dem Sprecher*innenrat der Osterholzer Linken sieht ähnliche Gründe für den Aufstieg der AfD - zieht aber andere inhaltliche Schlüsse daraus: „Die Zustimmung zu rechten Positionen wächst nicht im luftleeren Raum – sie ist auch eine Folge der Politik der vergangenen
Bundesregierungen. Sozialabbau, das Ausbremsen echter Klimagerechtigkeit, die Vernachlässigung kommunaler Daseinsvorsorge und massive Aufrüstung sorgen für Enttäuschung, Wut und Zukunftsangst – all das schafft einen Nährboden, in dem rechte Kräfte gedeihen können.“ Wolle man die AfD „wirklich politisch stellen und ihre menschenfeindliche Politik als eben diese entlarven, hilft nur ein radikaler Ausbau des Sozialstaates.“
Ein Parteiverbot alleine werde den Rechtsruck nicht aufhalten. „Es braucht vor allem eine Politik, die soziale Sicherheit schafft, Armut konsequent bekämpft und allen Menschen Teilhabe und eine lebenswerte Zukunft ermöglicht.“ Das Verbotsverfahren sei ein notwendiger Schritt, dürfe aber nicht als Ersatz für politische Verantwortung missverstanden werden. „Der beste Schutz vor menschenfeindlicher Ideologie ist eine gerechte Gesellschaft“, so Schübel.
Hintergrund: Der Volksbegriff der AfD (aus ihrer Sicht)
Die AfD weist den Vorwurf zurück, sie vertrete einen ethnisch-abstammungsmäßigen Volksbegriff, und erklärt: „Als Rechtsstaatspartei bekennt sich die AfD vorbehaltslos zum deutschen Staatsvolk als der Summe aller Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen.“ Unabhängig vom ethnisch-kulturellen Hintergrund gelte: „Staatsbürger erster und zweiter Klasse gibt es für uns nicht.“ Zugleich betont die Partei ihr Ziel, „das deutsche Volk, seine Sprache und seine gewachsenen Traditionen langfristig erhalten“ zu wollen – ein Anliegen, das sie im Einklang mit einem entsprechenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts sieht. Der Erwerb der Staatsbürgerschaft solle daher „an strenge Bedingungen geknüpft“ sein, denn nur wer „unsere Sprache spricht, unsere Werte teilt und unsere Lebensweise bejaht“, solle Deutscher werden können - diese Bedingungen gelten heute bereits beim Einbürgerungsverfahren. Die AfD will die „aktuelle Massenzuwanderung“ beenden und betont: „Es gibt kein Menschenrecht auf Migration in das Land der eigenen Wahl.“ Vielmehr beruft sie sich auf die UN-Erklärung von Mexiko-City zur Kulturpolitik (1982), der zufolge „jedes Volk das Recht [hat], seine kulturelle Identität zu erhalten und zu schützen“.