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"Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg": Ausstellung im Lager Sandbostel

Sandbostel (rpg). Die internationale Wanderausstellung macht seit dem 1. Juli Halt im Lager Sandbostel und kann dort bis zum 30. September zu besucht werden. Die Ausstellung wirft ein Schlaglicht auf die Rolle der „Dritten Welt“ im Zweiten Weltkrieg, die von der europäischen Geschichtsschreibung missachtet wird.
Schließt fatale Lücken in der Geschichtsschreibung: die Wanderausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“. Kurator Kurt Rössel hat mit Kolleg*innen über zehn Jahre für sie recherchiert. Foto: rpg

Schließt fatale Lücken in der Geschichtsschreibung: die Wanderausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“. Kurator Kurt Rössel hat mit Kolleg*innen über zehn Jahre für sie recherchiert. Foto: rpg

Sandbostel. Die international wandernde Ausstellung „Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg“ macht seit dem 1. Juli Halt im Lager Sandbostel und kann dort bis zum 30. September zu besucht werden. Die Ausstellung wirf ein Schlaglicht auf die Beteiligung der sogenannten „Dritten Welt“ am Zweiten Weltkrieg, die aus der europäischen Geschichtsschreibung komplett herausfällt.
„Die Ausstellung ist ganz bewusst so konzipiert, dass jede Schautafel eine eigene Geschichte erzählt. So muss nicht jeder die komplette Ausstellung ansehen. Die Leute können sich bestimmte Themen heraussuchen. Wer sich z. B. für das Themengebiet Afrika interessiert, kann sich das dazugehörige Kapitel anschauen“ erklärte Rössel. Auf 100 Tafeln finden sich Geschichten aus allen Teilen der Welt, die im Zweiten Weltkrieg involviert waren.
 
Koloniales Erbe
 
Gerade vor dem Hintergrund, dass Deutschland sein koloniales Erbe nie aufgearbeitet hat, sind die Tafeln zu den Kolonialplänen der Nationalsozialisten sehr aufschlussreich. In einer „Kolonialen Sonderschau“ auf der Kölner Zeitungsmesse „Pressa“ wurde z. B. bereits 1928 mit einem Konrad Adenauer-Zitat die Eroberung von „menschenleerem Raum“ in Afrika propagiert: „Das Deutsche Reich muss unbedingt den Erwerb von Kolonien anstreben. Im Reiche selbst ist zu wenig Raum für die große Bevölkerung. Gerade die etwas wagemutigen, stark vorwärtsstrebenden Elemente, die sich im Lande selbst nicht betätigen konnten, aber in den Kolonien ein Feld für ihre Tätigkeit finden, gehen uns dauernd verloren. Wir müssen für unser Volk mehr Raum haben und darum Kolonien.“ Adenauer (Bundeskanzler von 1949-63) war vor 1933 nicht nur Oberbürgermeister von Köln, sondern auch stellvertretender Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft.
 
Soldaten aus der „Dritten Welt“
 
Rössel gehört einer Gruppe von Journalisten und Sozialwissenschaftlern an, die zehn Jahre lang, teilweise auch auf eigene Kosten, recherchierte, bis die erste Ausstellung realisiert wurde. Rössel: „Wir machen das bereits über 10 Jahre. Die Idee funktioniert. Die englische Fassung tourt seit 2017 durch Südafrika. Auch in der Schweiz war unsere Ausstellung bereits zweimal. Sobald die Leute fünf/sechs Tafeln betrachtet haben, werden sie bemerken, dass sie von den Inhalten noch nie etwas gehört haben. Diese Thematik ist in unseren Geschichtsbüchern nicht enthalten. Ich würde sagen, es ist die zweite Hälfte der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, die über lange Zeit komplett ignoriert wurde. Die Inhalte kennt bisher kaum jemand. Es gab im 2. Weltkrieg mehr Soldaten aus der Dritten Welt als aus Europa. 14 Millionen aus China, 2,5 Millionen Inder, je eine Million Afrikaner unter französischem bzw. britischem Kommando. 335000 kamen aus Südafrika, 750000 aus Äthiopien.“
Zudem habe es allein in China mit 21 Millionen Toten mehr Opfer als in Deutschland, Japan und Italien zusammen gegeben. Auch war es nicht Dresden, das während der Befreiungsbombardierung am meisten Opfer zu beklagen hatte, sondern die philippinische Hauptstadt Manila.
 
Vergessene Widerstandskämpfer
 
In Sandbostel wurde das Thema nun auch deshalb aufbereitet, weil die Gedenkstätte direkt von ihm berührt wird: Der Widerstandskämpfer Anton de Kom aus Surinam starb am 24. April 1945, wenige Tage vor der Befreiung des Lagers, in Sandbostel. De Kom gehörte zu den wichtigen Intellektuellen seines Landes, die sich gegen die niederländische Kolonialherrschaft zur Wehr setzten. Nach seinem Studium in Holland organisierte er Studenten aus den Kolonien, die für die Unabhängigkeit eintraten. 1933 kehrte er nach Surinam zurück, doch die Kolonialmacht deportierte ihn und seine Familie zurück nach Amsterdam. Als die Nazitruppen im Mai 1940 die Niederlande besetzten, schloss sich de Kom dem Widerstand an - 1944 entdeckten Gestapotruppen subversives Material, und verschleppten ihn in ein deutsches Konzentrationslager in den Niederlanden. Von dort kam er über Oranienburg nach Sandbostel.
Über dieses Einzelschicksal hinaus erinnert die Ausstellung den Verdienst afrikanischer Kämpfer an der Befreiung Europas, der in der europäischen Geschichtsschreibung missachtet wird. Aber auch Länder aus Lateinamerika unterstützten die Alliierten, wie z. B. Uruguay, das den Alliierten billig Rohstoffe lieferte. So macht die Ausstellung begreifbar, dass in der Eskamotierung der kolonialisierten Länder aus der Geschichtsschreibung der Kolonialismus auf eine bestimmte Weise fortlebt.
 
Frauentribunal
 Rössel thematisierte im Gespräch zudem Verbrechen gegen die Menschheit, über die auch die Nachkriegsregierungen Japans Rechenschaft abzulegen haben. „In vielen asiatischen Ländern entstanden in den 1990er Jahren Selbstorganisationen von Massenvergewaltigungsopfern, die während des 2. Weltkriegs in die Militärbordelle der japanischen Streitkräfte verschleppt worden waren. Es hat sehr lange gedauert, bis die Frauen sich getraut haben, darüber zu sprechen. Weil sie teilweise nicht in ihre Familien zurückkehren konnten, da sie zu große Scham hatten. Erst als eine Frau im japanischen TV gesprochen hatte, Japan jedoch leugnete, und behauptete, es seien alles bezahlte Prostituierte gewesen, sind unzählige Frauen an die Öffentlichkeit gegangen“, erklärt Rössel. Hwang Kum-Ju z. B.. war 19 Jahre alt, als sie in der koreanischen Provinzstadt Hamhung einem Aufruf des japanischen Kaisers folgte, der „unverheirateten Mädchen und Frauen“ für einen „dreijährigen Dienst in einer japanischen Rüstungsfabrik (…) eine Menge Geld“ versprach. Tatsächlich landete sie mit zahlreichen weiteren Mädchen nach tagelanger Irrfahrt in verdunkelten Bahnwaggons in einem Militärgelände in der Mandschurei. Schon am nächsten Morgen wurde sie von einem japanischen Offizier vergewaltigt, danach über sechs Jahre von bis zu 40 Soldaten täglich. Hwang Kum-Ju blieb davon ihr Leben lang traumatisiert.


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