Patrick Viol

Weihnachten - Das wahre Fest der Utopie

In seinem persönlichen Weihnachtsessay spricht Patrick Viol den Wunsch aus, dass uns im nächsten Jahr bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme mehr utopische Einbildungskraft begleiten möge.
Carl von Ossietzky schreib an Weihnachten 1921 Weihnachten sei „eine kleine Frist der Versenkung ins eigene ich“ und das „wahre Fest der Utopie“. Bild/adobestock/Anastassiya

Carl von Ossietzky schreib an Weihnachten 1921 Weihnachten sei „eine kleine Frist der Versenkung ins eigene ich“ und das „wahre Fest der Utopie“. Bild/adobestock/Anastassiya

Ich hatte mich bereits letztes Jahr sehr auf dieses Weihnachten gefreut. Nächstes Jahr, so dachte ich vor zwölf - extrem kurzen, aber absolut schlauchenden - Monaten wird die Vorweihnachtszeit wieder eine Zeit der Vorfreude sein können. Denn die kam letztes Jahr schwerlich auf. Permanent checkte ich die Inzidenzwerte, diese soziale Vereinsamung androhenden Chiffren aus dem die meiste Zeit schlecht befüllten, sogenannten politischen Instrumentenkasten. Oder ich sah die zwanghaft lockeren Werbespots politischer PR-Agenturen auf Instagram, die einem allen Ernstes Abstandhalten nicht als ein notwendiges Übel klarmachen, sondern als einen Ausdruck von Nächstenliebe verkaufen wollten. Auch wenn es bedeutete, dass man seine Oma dann zwei Monate später ohne eine letzte Umarmung an das verkackte Virus verlor.
Ich meine, wie soll man in Weihnachtsstimmung kommen, wenn einem so schlaumeiernde wie emotional erkaltete Podcasterinnen wirklich erzählen wollen, dass warme Duschen und Kuschelheizdecken den Verlust menschlicher Nähe wettmachen könnten - also um Gottes willen: Es war wirklich unerträglich. Entsprechend hoffte ich - denn Weihnachten ist bekanntlich die Zeit der kontrafaktischen Hoffnung - dieses Jahr wäre alles besser.
Aber weil wir nun einmal in einer Gesellschaft leben, deren Funktionieren darin besteht, dass wir alle - sprich die Menschheit - nicht an einem Strang, sondern uns - im Großen wie im Kleinen - gegenseitig über den Tisch ziehen; weil wir also keine versöhnte, sondern - politisch wie ökonomisch in Arm und Reich aufgeteilte und deshalb allen Beschwörungen gesellschaftlichen Zusammenhalts zum Trotz - gespaltene Gattung sind, wurden meine weihnachtlich-hoffnungsvollen Erwartungen enttäuscht.
Denn machen wir uns doch nichts vor: Die Tatsache, dass sich die Pandemie gerade politisch und epidemiologisch (Stichwort Omikron) verschärft, hat den einfachen, strukturellen Grund, dass keine der (gesundheits- und pandemiepolitischen) Entscheidungen der kantische kategorische Imperativ zugrunde liegt, wonach jedem Handeln die Achtung vor der Menschheit in jeder Person als Selbstzweck zugrunde zu liegen hat. Es geht gerade wieder den Bach runter, weil die Pandemiepolitik vielleicht wissenschaftlich orientiert, nicht aber im emphatischen Sinn vernünftig, also auf die Möglichkeit einer versöhnten Menschheit bezogen ist.
Sie hat wie jede Politik aufgrund der spezifisch ökonomischen Spaltung der Gattung in all ihren lediglich instrumentell-vernünftigen Facetten notwendig auf die Reproduktion der gespaltenen Gesellschaft in Arm und Reich ausgerichtet zu sein, auf die Produktion von materiellem Reichtum. Nicht auf das Wohl der Einzelnen. Nicht auf das Heil einer verwirklichten Menschheit. Auf wahren Reichtum.
Ganz einfaches und eklatantes Beispiel: Während man hierzulande fast jeden Ungeimpften zum Nazi macht, der unsere Gesellschaft spalten will, sorgte die alte Bundesregierung im Bund mit anderen europäischen Staaten aus wirtschaftlichen Gründen dafür, dass es weltweit zig Millionen von Ungeimpften gibt. Indem sie z. B. ärmeren Ländern zu Anfang Impfstoff wegkaufte und ihnen zugleich die Möglichkeiten durch Patentfreigabe und logistische Unterstützung verwehrt, Generica herzustellen. Das Ende vom Lied: massenhafte Profite, 15, 9 Milliarden allein diesem Jahr, und Omikron. Diese die Zielgerade aus der Pandemie heraus ins Ungewisse verlängernde Variante geht doch nicht darauf zurück, weil sich irgendein sächsischer Esoökofaschist nicht impfen lassen will. Sondern darauf, dass man ein Weltproblem national und ökonomisch erträglich zu lösen versucht.
Und um es abschließend auf den Punkt zu bringen: Weder die in großen Teilen fragliche Pandemiepolitik, noch der im Hamsterrad seiner beengten Verhältnisse durchdrehende Impfgegner spalten die Gesellschaft. Beides sind Symptome der grundsätzlich unversöhnten Menschheit.
Mir ist bewusst, dass dieser Blick auf unsere gesellschaftlichen Probleme auch nicht gerade die Weihnachtsfreude anheizt. Aber ich denke, wenn es mit der ausgelassenen Fröhlichkeit in Anbetracht der Verfassung der Welt eh schon schlecht bestellt ist, kann man sich doch gut auf die besinnliche, kritische Seite von Weihnachten konzentrieren. Und die bedeutet nicht, vollgefressen auf dem Sofa zu liegen, sondern zur Ruhe und dadurch zur Besinnung zu kommen, d. h. sich unverstellt in vollem Bewusstsein dem Leid der Menschheit zu stellen. Aber nicht, um daran zu resignieren, sondern sich der wirklichen Möglichkeiten bewusst zu werden, wie das Leid abzuschütteln und die Spaltung der Gattung zu überwinden wäre. Und die liegen, und dafür stand letztlich Gottes Sohn Jesus Christus, in unseren Händen, sofern sie sich solidarisch ergreifen.
Entsprechend schreibt Carl von Ossietzky an Weihnachten 1921 Weihnachten sei „eine kleine Frist der Versenkung ins eigene ich“ und das „wahre Fest der Utopie“. Denn der Mensch, „wider Willen fest, wird weicher und spinnt sich hinein in einen sanften Zustand von Kampflosigkeit, und die Einbildungskraft behauptet ihr ewiges Recht neben der kalten Vernunft.“
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine besinnliche Weihnacht und dass die utopische Einbildungskraft uns im nächsten Jahr bei der Lösung unserer Probleme mehr begleitet wird, als in diesem.


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