Lena Stehr

Leitartikel: Es ist Zeit für eine Zeitenwende in der Bildungspolitik

Dass in Krisenzeiten Kinder massiv in Mitleidenschaft gezogen werden, ist kein Resultat gleichzeitig streikenden Personals oder immenser Krankheitsausfälle. Das grundsätzliche Problem ist mangelnde Bereitschaft, massiv in Kitas und Grundschulen zu investieren, meint Lena Stehr.

Dass Kinder in besonderer Weise unter der Pandemie gelitten haben und noch leiden, wie Ärztepräsident Klaus Reinhardt jüngst in Berlin erklärte, ist wohl unumstritten. Über „Kinderseelen in der Krise“ hat der Anzeiger vor fast genau einem Jahr bereits berichtet. Immerhin sind die Auswirkungen der Corona-Krise auf Kinder und Jugendliche jetzt auch ein Schwerpunktthema des Deutschen Ärztetags Ende Mai in Bremen. Es bleibt allerdings zu befürchten, dass zwar mal wieder viel über Kinder geredet, sich deren Situation aber kaum verbessern wird. Weil die Politik, und das ist der wirkliche Grund der miserablen Lage unserer Kinder, im Bildungssystem von einer mehr als nötigen „Zeitenwende“ so weit entfernt ist wie die Physik von der kalten Fusion. An den laufenden Tarifrunden ist abzusehen, dass die Politik sich weiter darauf verlassen wird, dass Pädagoginnen und Eltern, da ihnen der Nachwuchs wichtig ist, auch bei widrigsten Umständen ihre Aufgabe schon erfüllen werden. Das aber ist im Grunde Erpressung und zeigt, was der deutsche Krisenjargon „Gemeinsam schaffen wir das“ praktisch bedeutet.
 
Gleiche Chancen für alle
 
Was aber wäre zu tun? Damit nicht noch mehr Kinder als ohnehin schon durch die großen Maschen des Systems rutschen und es den Kindern insgesamt besser gehen kann - und damit auch der ganzen Gesellschaft - benötigen alle von Anfang an die gleichen Chancen - egal, aus welchen Familienverhältnissen sie kommen. Zudem muss die Arbeit von Erzieherinnen und insbesondere von Grundschullehrkräften mehr wertgeschätzt und vor allem besser bezahlt werden. Die Lohnunterschiede zwischen Grundschul- und Gymnasiallehrer:innen gehören abgeschafft. Das heißt, es muss massiv in Kitas und Grundschulen investiert werden - ähnlich wie jetzt plötzlich in die Bundeswehr. Andernfalls schauen wir in eine besorgniserregende Zukunft, die Eltern und Erzieher:innen bereits antizipieren und tätig werden lässt.
 
„Warten auf ein Signal der Politik“
 
„Es braucht die Anstrengung aller, und wir Eltern warten auf ein Signal der Politik, dass die Familie als Säule der Gesellschaft die Unterstützung erhält, die sie braucht“, heißt es z. B. in einer Mitteilung des Vorstandes der Landeselternvertretung der niedersächsischen Kindertagesstätten e. V. Anlass sind die jüngsten Streiks von Kita-Beschäftigten und damit verbundene Kitaschließungen, die nur ein weiterer Gipfel auf dem bergigen Weg zahlreicher coronagebeutelter Eltern sind, die das Gefühl nicht loswerden, alles sei immer wichtiger und dringender als eine adäquate Betreuung und die Bildung ihrer Kinder.
Die Vorsitzende Christine Heymann-Splinter bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt, dass es uns gerade jetzt - wo wir unendlich viel Geld für andere Dinge in Deutschland aufbringen - die Kinder mal wieder nicht wert sind, in sie zu investieren. Es ist die Rede von Kindern, die eher „verwahrt“ als betreut und gefördert werden sowie von Eltern, die während der Pandemie enorme Ausfälle geschultert haben und es immer noch tun. Dabei seien die Eltern durchaus solidarisch und hätten Verständnis für die Erzieherinnen, die für bessere Arbeitsbedingungen auf die Straße gehen und selbst am Limit arbeiten, weil Fachkräfte fehlen.
Sonja van Assen, die Mutter eines Sechstklässlers der Waldschule Schwanewede, kann auch ein Lied vom Fachkräftemangel singen. Die Schule könne derzeit nur 80 Prozent des Unterrichts abdecken, die Schüler:innen seien häufiger auf dem Spielplatz statt Englisch zu lernen, würden „verwahrt“ statt unterrichtet. Die Eltern hätten das Gefühl, zusätzlich den Lehrauftrag der Schule übernehmen zu müssen. Das ist für viele nicht nur unmöglich.
Es besteht dadurch auch die reale Gefahr, dass viele Kinder das Versäumte vielleicht nie richtig aufholen können und dauerhaft abgehängt bleiben.
 
Verteidigung der Demokratie
 
Über diese Benachteiligung bestimmter Kinder schreibt auch der Erziehungswissenschaftler und Soziologe Aladin El-Mafaalani. Er meint, dass ein Wandel dort beginnen sollte, wo Benachteiligung am wirksamsten bekämpft werden kann, weil alle Kinder erreicht werden: nämlich an Kitas und Grundschulen, vor allem in sozialen Brennpunkten. Auch er plädiert dafür, massiv in die im OECD-Vergleich unterfinanzierten Einrichtungen zu investieren.
El-Mafaalani schlägt vor dem Hintergrund, dass Bildungserfolg immer noch stark an die soziale Herkunft gekoppelt ist, multiprofessionelle Teams an Schulen und Kitas aus Bereichen wie Gesundheit, Soziales, Psychologie, Kunst und Kultur vor. Denn privilegierte und nicht-privilegierte Kinder würden sich vor allem in ihren Lebenswelten und Erfahrungshorizonten unterscheiden. Und diese Unterschiede könne Unterricht alleine gar nicht ausgleichen. Daher bleibt es dabei, dass in Deutschland ein Professorenkind eine mehr als dreimal so große Chance wie ein Facharbeiterkind, eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen – bei gleicher Kompetenz und kognitiven Fähigkeiten.
So werden aber nicht nur Unterschiede zwischen den Kindern weiter zementiert und von Generation zu Generation weiter getragen. Es wird auch die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie unterminiert. Zu der braucht es nämlich nicht nur Waffen, sondern eine umfassend gebildete, kritische Öffentlichkeit.
 


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