Patrick Viol

Extrem fragwürdig

Das Urteil gegen  Lina E. wirft viele Fragen über den staatlichen Kampf gegen Rechts- und Linksextremismus auf. Auch vor Ort.

Das Urteil gegen die mutmaßliche Linksextremistin Lina E. hat militantem Antifaschismus nicht nur Grenzen aufgezeigt, sondern zugleich eine Debatte über Staatsversagen im Kampf gegen rechts und die Gefahr durch Linksextremismus entfacht.

Nachdem in der letzten Woche die mutmaßliche Linksextremistin Lina E. u. a. wegen schwerer Überfälle auf Rechtsradikale zu fünf Jahren und drei Monaten Haft verurteilt wurde, kam es am Mittwochabend im ganzen Land und am Samstag in Leipzig zu Demonstrationen, auf denen die Teilnehmenden ihre Solidarität mit der Verurteilten ausdrückten. Dabei kam es jeweils zu massiven Ausschreitungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Aufgrund der Brutalität, mit der die Gruppe um Lina E. gegen ihre Opfer vorgegangen sein soll, aber auch aufgrund der sich auf den Demos gezeigt habenden Gewaltbereitschaft von Menschen aus der linksradikalen/linksextremen Szene wird in Deutschland derzeit zum einen über eine mögliche Gefahr, die von Linksextremen für die Demokratie ausgeht, diskutiert. Das Stichwort dafür gegeben hat Bundesanwältin Franziska Geilhorn. Sie sprach in ihrem Plädoyer davon, Lina E. und ihre Mitstreiter hätten mit ihrer „militanten antifaschistischen Ideologie das Gewaltmonopol des Staates ausgehebelt und den „friedlichen politischen Meinungskampf“ als Grundelement freiheitlicher Demokratie infrage gestellt. Auch wenn das Motiv achtenswert sei - die Taten hätten eine Gewaltspirale in Gang gesetzt.

Zum anderen werden - mehr innerhalb der Linken - die Fragen verhandelt, ob das Urteil angesichts dessen, dass es u. a. auf Indizien und Aussagen eines Kronzeugen beruht, politisch sei und Antifaschismus kriminalisiere und wann welche Gewalt gegen Nazis legitim ist. Angegriffen wurden ja nicht irgendwelche Menschen, sondern unter anderem Leon R., der mit seiner militanten Gruppe Knockout 51 vom Staat äußerst ungestört auf Menschenjagd gehen und Anschläge verüben konnte. Zudem bot R. mit seiner Kneipe Bull’s Eye der gewaltbereiten Szene einen Rückzugs- und Vernetzungsort, um hier einen deutschen Ableger der den Rassenkrieg propagierenden „Atomwaffen Division“, also eine Terrorgruppe, aufzubauen, die nicht mit Kleber Staus provozieren, sondern mit Waffen Menschen töten würde.

 

Die Reaktionen

 

Bundesinnenministerin Faeser kündigte nach den Ausschreitungen an, die linksextreme Szene im Blick zu behalten. „Die sinnlose Gewalt von linksextremistischen Chaoten und Randalierern ist durch nichts zu rechtfertigen“, sagte die Sozialdemokratin in einer Mitteilung. Philip Eppelsheim wirft der Regierung in der FAZ hingegen vor, auf dem „linken Auge blind“ zu sein. Ähnlich scheint es auch Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) zu denken und fordert daher ein Konzept gegen Linksextremismus in Sachsen - vergleichbar den Konzepten gegen Rechtsextremismus.

 

Junge Union

 

Ein solches Konzept hält auch Aaron Kruse, Vorsitzender des Kreisverbandes der Jungen Union Rotenburg für geboten - dafür sei es „höchste Zeit“. Er wirft der Bundesregierung zwar nicht vor, auf dem „linken Auge blind“ zu sein. „Gleichzeitig lässt sich der Verdacht einer Verharmlosung und Legitimierung dieses Extremismus bei den Jugendorganisation von SPD und Grünen nur schwer von der Hand weisen“, so Kruse. Er halte alles Extreme für gefährlich. „Menschen, die ihre Interessen über die Gesundheit und das Wohlbefinden Anderer stellen, sind gefährlich für uns alle, weil sie sich selbst außerhalb des gemeinsamen Rechtsrahmens sehen.“ Man dürfe nicht immer nur nacht rechts zeigen, sondern es sei nötig, „in beide Richtungen zu schauen.“ Dass „jeglicher politischer Extremismus eine Gefahr für die Demokratie“ darstelle, sehe auch der Verfassungsschutz so, unterstreicht Kruse seine Ausführungen.

 

Die Wissenschaft

 

Nur ist diese Unterschiede nivellierende abstraktifizierte Gegenüberstellung von Links und Rechts zu einem „logischen Begriffspaar“ ein Problem, wie Laura Treskow betont. Die Sozialwissenschaftlerin am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen hat das 2020 vom Niedersächsischen Justizministerium geförderte Gutachten zum Thema „Prävention von Linksextremismus in Niedersachsen. Ausmaß, Ursachen, Präventionsansätze“ verfasst.

Gewaltbereitschaft sei zwar grundsätzlich „eine Gefahr für das Zusammenleben in einer Gesellschaft“. Aber eine Gegenüberstellung der Termini Rechtsextremismus und Linksextremismus „umfasst die theoretische Annahme, es gäbe zwei extreme Pole, die durch eine ‚politische Mitte‘ miteinander verbunden sind“. Gleichwohl sei aber die „Dimensionen des Rechtsextremismus überall in der Gesellschaft (auch in der politischen Mitte) wiederzufinden“.

Aber nicht nur theoretisch wäre eine Gleichbehandlung von Links-und Rechtsextremismus problematisch - diese „Hufeisentheorie“ wird auf Seiten der Forschung nicht selten auch als eine Verharmlosung des Rechtsextremismus kritisiert.

Bevor es ein Präventionskonzept für Linksextremismus geben könne, müsse es „vor allem noch viel mehr Forschung zum Themenfeld“ geben. Denn bis jetzt sei auf wissenschaftlicher Seite - im Gegensatz zur behördlichen - nur eins hinsichtlich dem Phänomen Linksextremismus eindeutig: „dass es keine Einigkeit gibt. Es gibt verschiedene Definitionen, die mit unterschiedlichen Annahmen zusammenhängen und mal mehr oder weniger konkret sind“, so Treskow.

 

Die Linke, das Justizministerium und die Antifa OHZ

 

Die Kreistagsfraktion der Linken könne - ähnlich wie die Anwälte von Lina E. - keine „Bedrohung oder Gefahr für den Staat oder gar die Gesellschaft durch linksextreme Gruppen (...) erkennen“, wie Reinhard Seekamp mitteilt. Auch bewerten sie die Taten der Gruppe um Lina E. nicht als „staatsgefährdende Handlungen“. „Keine der vorgeworfenen Taten war gegen die Sicherheit des Staates gerichtet.“ Gefährlich seien dagegen die steigenden Umfragewerte der in weiten Teilen rechtsextremen AfD, und Seekamp betont: Rechtsradikale töten. „Die Antonio-Amadeu-Stiftung zählt von 1990 bis 2021 219 Todesopfer, darunter auch den Mord von Landrat Lübke, den Überfall auf die Synagoge in Halle und das Massaker in Hanau.“ Zustimmung erhält er vom Niedersächsischen Justizministerium:

„Nach einhelliger Einschätzung der Sicherheitsbehörden des Bundes und der Länder geht gegenwärtig das signifikanteste Bedrohungspotenzial - einschließlich gewalttätiger Bestrebungen - für einzelne Menschen wie gesamtgesellschaftlich vom Rechtsextremismus und mit ihm verwandten Phänomenen (Stichwort „Reichsbürger“-Szene) aus“, wie Dr. Andreas Schwegel auf Nachfrage dem ANZEIGER mitteilt. (zum Verfassungsschutzbericht). Dennoch sollten „Radikalisierungsdynamiken“ im Hinblick auf linksgerichtete Militanz beobachtet werden.

Was Dr. Schwegel abstrakt als „Radikalisierungsdynamiken“ fasst, kann die Antifa OHZ konkretisieren: „Gerade im Osten wächst die rechte Szene sowohl innerhalb als auch außerhalb der Parlamente enorm, weshalb sich auch der Widerstand dagegen stärken muss. Das hat nichts mit Verrohung, sondern mit konsequentem Antifaschismus zu tun.“

Gewalt gegen Nazis sei „legitim“. „Wer sich also dafür entscheidet in diesen Strukturen mitzuwirken, muss damit rechnen, Gewalt entgegengebracht zu bekommen.“ Denn wer Minderheiten angreift und „ein falsches Heimat- und Obrigkeitsgefühl“ verbreitet, füge großen Teilen der Bevölkerung Leid zu, dem man sich entgegenzustellen habe. Menschen zu verurteilen, die das tun, sei nicht hinnehmbar. Mit dem Urteil gegen Lina E. sei das aber getan worden.

Dass auf Seiten der radikalen Linken keine Verrohung stattfinde, sondern eine Reaktion auf die sich ausbreitende rechtsradikale Gewalt, sieht auch die Kreislinke so.

Und während die Nazis einerseits mehr und brutaler werden, werden sie andrerseits, sofern sie polizeilich zur Rechenschaft gezogen werden, im Verhältnis zu den Urteilen gegen Linke milder bestraft. So legt Erik Peter in der taz dar, dass NSU-Helfer André Eminger, Helfer für 10 Morde also, mit 2,5 Jahren Haft eine geringere Strafe als Lina E.-Helfer Jonathan M. bekam. „Und zwei Neonazis, die im thüringischen Fretterode zwei Journalisten lebensgefährlich attackierten, kamen mit einem Jahr auf Bewährung und 200 Sozialstunden davon. Das milde Urteil begründete die Richterin damit, dass sie ihre Opfer nicht als Journalisten erkannt, sondern für Linke gehalten hatten.“

Ein Präventionskonzept gegen Gewalt aus der radikalen Linken wäre dieser Argumentation nach ein härteres Vorgehen des Staates gegen Rechtsradikalismus. Nicht gewalttätige Antifaschistinnen hätten demnach das Gewaltmonopol des Staates angegriffen. Sie hätten da eingegriffen, wo er sich von der konsequenten Anwendung seines Monopols zurückgezogen habe.

 

Nicht emanzipatorisch

 

Aber nicht alle innerhalb der linksradikalen Szene gehen diese Argumentation mit, dass mehr und brutalere Nazis bei gleichzeitigem Staatsversagen härtere Methoden erforderten. Die linksradikale Gruppe No Tears for Krauts aus Halle schreibt in ihrem Statement zu den Protesten gegen das Urteil z. B. - auch wenn sie kein Mitleid mit Nazis hat und insbesondere die Verhältnisse im ländlichen Osten allzugut kennt -: „Wer gezielt mit Hämmern auf Wehrlose einschlägt (...), betreibt keinen antifaschistischen Selbstschutz; noch nicht einmal offensiven.“ Dies sei eine Verrohung und eine Übernahme von Nazimethoden. „Nur weil man sich den ohnehin längst entwerteten Begriff der Emanzipation auf den Hammer malt, bedeutet das nicht, dass einem auch tatsächlich daran gelegen ist.“


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