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Dr. Elke Gryglewski über die Funktion von Gedenkstätten in unserer Gesellschaft

Sandbostel (rgp). Der Gedenkstättenverein Sandbostel e.V. feiert 30-jähriges Jubiläum. Vor ihrer Ansprache bei der Festveranstaltung am 23. April hat die Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsischer Gedenkstätten, Dr. Elke Gryglewski mit dem ANZEIGER gesprochen.

Anzeiger: Was macht die Gedenkstätte in Sandbostel aus und wie hat sie sich in den 30 Jahren entwickelt?
 
Dr. Elke Gryglewski: Für mich macht die Gedenkstätte Sandbostel aus, dass sie einen Verbrechenskomplex und eine Opfergruppe repräsentiert, die jahrzehntelang vergessen wurden. Dass es Verbrechen der Wehrmacht vor allem aber nicht nur an sowjetischen Kriegsgefangenen im „Reichsgebiet“ gegeben hat, war selbst nach den Ausstellungen zu den Verbrechen der Wehrmacht ein unbekanntes und ungewolltes Thema. Außerdem ist es ein erstaunlich gut erhaltener Ort, an dem Geschichte in all ihrer Vielschichtigkeit deutlich wird. Es verwundert mich immer wieder, dass man von der Autobahn abbiegt, über ein paar Landstraßen fährt und beim Einbiegen in das Gedenkstättengelände angesichts der Baracken das Gefühl hat, man sei in einem anderen Land angekommen. Das Gelände erinnert an KZ Gedenkstätten in Polen… Dass sie über die Landesgrenzen von Niedersachsen oder international im Vergleich zu Gedenkstätten wie Dachau oder Sachsenhausen eher unbekannt ist, ist bedauerlich angesichts der interessanten und professionell gestalteten Dauerausstellung, die seit einigen Jahren zu besichtigen ist. Das heißt, die Veränderung der Gedenkstätte liegt vor allem in der Professionalisierung der Arbeit – sowohl im Hinblick auf die Darstellung der Geschichte als auch in Bezug auf Bildungsangebote.
 
Mit welchen Schwierigkeiten war die Gründung einer Gedenkstätte in Sandbostel vor Ort (ihrer Meinung nach) konfrontiert?
 
Wie in der Umgebung der meisten historischen Orte, die Zeugnis für die nationalsozialistischen Verbrechen sind, war die Bereitschaft der Bevölkerung, insbesondere der unmittelbaren Nachbarschaft, nicht da, sich der Vergangenheit zu stellen, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Das heißt, lange Zeit wurde eine Gedenkstätte abgelehnt, die an die Vergangenheit erinnert. In mühsamer stetiger und langjähriger Arbeit konnte diese Haltung überwunden werden und schließlich 2004 mit dem Gedenkstättenverein und acht weiteren Einrichtungen die Stiftung Lager Sandbostel als Trägerin der Gedenkstätte gegründet werden.
 
Welche Funktion haben Gedenkstätten in unserer Gesellschaft?
 
Gedenkstätten haben mehrere Funktionen. Zunächst ist die Dimension der Verbrechen so groß, dass sie dokumentiert werden muss – Gedenkstätten sind damit Orte des Beweises. Weiterhin ist es nach wie vor, dass bleibend Forschungen zu den historischen Orten und ihrer Funktion im NS-System sowie zu den Folgen durchgeführt werden sollten, um die Komplexität der Geschichte nachvollziehen zu können. Viele dieser Forschungen werden von den Gedenkstätten selbst angeregt und durchgeführt, oft sind sie aber auch Impulsgeber:innen für andere Wissenschaftler:innen. Die Forschungen wiederrum sind die Grundlage für die Weitergabe der Geschichte an ein möglichst breites Publikum mit jeweils zielgruppenspezifischen Bildungsangeboten. Damit sind Gedenkstätten auch zentrale Lernorte zur Geschichte des Nationalsozialismus, zur Nachgeschichte, zu personellen, strukturellen und ideologischen Kontinuitäten. Und dieses Lernen ist einerseits die Voraussetzung für das – aus meiner Perspektive bleibend wichtige – Gedenken und andererseits die Grundlage für eine Orientierung in der Gegenwart.
 
Womit haben Gedenkstätten in Deutschland heutzutage am meisten zu kämpfen?
 
Neben der an sie gerichteten Erwartungshaltung im Hinblick auf die Bekämpfung rassistischen, antisemitischen und andere Vorurteile betreffendes Gedankengut ist meines Erachtens die größte Herausforderung, dass alle meinen zu wissen, wie oder was Gedenkstätten sind – die wenigstens aber ein wirklich fundiertes Bild der täglichen Arbeit haben. Diese Unwissenheit bezieht sich sowohl auf die Geschichte der Orte als auch auf die Prämissen, Standards und Fragestellungen, die die tägliche Arbeit im Bemühen um Angemessenheit, Professionalität und Nachhaltigkeit begleiten.
 
Ist das Gedenken in Deutschland noch lebendig oder in ritualisierten Formen und Floskeln erstarrt? (Wenn ja, inwiefern. Wenn nein, was wäre zu tun?)
 
Meines Erachtens gibt es Beides – ritualisierte Formen, die in ihrer immer wiederkehrenden Art manchen Menschen Fremd sind. Gleichzeitig werden Rituale gebraucht. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass Jugendliche, die nach eigenen Projekten eingeladen wurden eigene Gedenkmomente zu gestalten, auf ähnliche Rituale zurückgriffen, wie die Erwachsenen sie nutzen. Das Gedenken ist sehr lebendig, wenn wir es als Gesamtheit oder als einen Prozess betrachten. Gedenken geht nicht von der ersten Minute an – man muss sich einem Thema nähern, Wissen aneignen und individuelle Schicksale kennenlernen, um etwas mit einem persönlichen Bezug Gedenken zu können. Voraussetzung für diesen Prozess ist grundsätzliches Interesse an der Auseinandersetzung mit der Geschichte – und dieses Interesse ist nach wie vor da. Unter jungen Menschen ist es in den letzten Jahren womöglich noch gestiegen angesichts der Infragestellungen der Erinnerungskultur durch Erwachsene, durch Vertreter:innen der AfD selbst im Bundestag.
 
Das Gepräch führte Ralf G. Poppe.


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