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Lena Stehr

Der Suizid als Ultima Ratio

Elbe-Weser-Raum. Kirche und Soziologie setzen beim Thema Sterbehilfe ihren Fokus auf Hilfe bei Lebensperspektiven, bessere Pflege, Hilfen für Angehörige und neue Wohnformen.

Selbstbestimmtes Sterben ist das Thema einer Veranstaltungsreihe der kirchlichen Frauen – und Männerarbeit und des Zentrums für Gesundheitsethik der hannoverschen Landeskirche. In der vergangenen Woche diskutierten Regionalbischof Dr. Hans Christian Brandy und die Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Helen Kohlen im Rahmen einer Online-Veranstaltung mit mehr als 130 Personen über die Frage, ob selbstbestimmtes Sterben für alle das gleiche bedeutet.
 
Höhere Selbstmordrate bei Männern
 
Brandy wies darauf hin, dass es beim Freitod signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen gebe. In Deutschland suizidieren sich demnach Männer ungefähr dreimal so häufig wie Frauen. 2018 seien es bei ca. 9.400 Suiziden über 7.000 Männer gewesen. Auch in der Wahl der Mittel gebe es Unterschiede. Männer suizidierten sich in der Regel deutlich aggressiver mit Strick oder Pistole, während Frauen eher zu Tabletten greifen würden.
Ein Grund für die niedrigere Selbstmordrate von Frauen könne laut Brandy sein, dass Frauen meist besser Hilfe in Anspruch nehmen könnten und über bessere soziale Netzwerke verfügen. Bei der Telefonseelsorge handele es sich bei zwei Drittel der Anrufer:innen um Frauen. Im Chat, den mehr Jüngere nutzen, liege der Anteil der Frauen bei über 70 Prozent.
 
Mehr Frauen nutzen assistierten Suizid
 
Signifikant anders sehe es allerdings beim assistierten Suizid aus, so der Regionalbischof. Daten aus der Schweiz und den Niederlanden zeigten, dass die Zahlen der Suizide nach der Legalisierung des assistierten Suizids steigen und dass insgesamt mehr Frauen das Angebot nutzten. So sterben in der Schweiz etwa 1.100 Menschen jährlich durch Suizid mit Beihilfe, davon seien knapp 60 Prozent Frauen. In den Niederlanden, wo es mehr als 6.000 Fälle von aktiver Sterbehilfe im Jahr gebe, seien ca. 52 Prozent Männer und ca. 48 Prozent Frauen betroffen.
 
Suizid als Ultima Ratio
 
In Deutschland habe das Bundesverfassungsgericht nun die Tür für den assistierten Suizid sehr weit geöffnet und auch die Kirche habe sich daran zu orientieren, so Brandy. Es sei auch gut, dass darüber kontrovers diskutiert werde.
Für ihn könne der assistierte Suizid aber nur eine Ultima Ratio, eine letzte Möglichkeit im Einzelfall sein. Hilfe zu Lebensperspektiven müsse im Vordergrund stehen.
Schließlich sei jedes menschliche Leben, auch das kranke und alte, ein Geschenk Gottes. „Leiden, Krankheit und Behinderung gehören zum Leben und unzählige Menschen erfahren auch unter diesen Bedingungen sinnvolles Leben und beglückende Beziehungen“, so Brandy.
Für ihn liegt auch der Tod in Gottes Hand, wobei diese Aussage in Zeiten von Hochleistungsmedizin nicht unproblematisch sei und längst nicht alle Fragen beantworte.
 
Palliativbetreuung ausbauen
 
Die Prävention und Verhinderung von Suiziden habe oberste Priorität, so Brandy. Die palliative Betreuung müsse unbedingt weiter ausgebaut und stärker bekannt gemacht werden.
Wenn eine Person aber wirklich und klar den Suizid wünsche, dann sollte ein würdiger Weg dafür gefunden werden, möglichst nicht durch geschäftsmäßig agierende Vereine, sondern am ehesten durch den vertrauten Arzt oder die vertraute Ärztin.
 
Einseitige Wertedebatte
 
Die Pflegewissenschaftlerin Prof. Dr. Helen Kohlen ist der Auffassung, dass eine einseitige Wertedebatte zugunsten der Selbstbestimmung geführt werde. Dabei würden Werte wie Rücksichtnahme, Achtsamkeit gegenüber anderen und insgesamt die sozialethische Perspektive - gegenüber der individualethischen Perspektive - an den Rand gedrängt oder sogar ignoriert.
Individuen seien nicht autonom, sondern immer in ihrem Netzwerk von Beziehungen zu betrachten, so Kohlen. Und alle seien mehr oder weniger, kürzer oder länger auf Sorge angewiesen. Autonomie und Fürsorge stünden miteinander in Beziehung und die fürsorgliche Zuwendung zum alten Menschen tue der Achtung vor seiner Autonomie keinen Abbruch. Sie sei vielmehr die Voraussetzung dafür, zu verstehen, was der Wille eines sterbenden Menschen sei.
Wenn Menschen an Suizid denken, hänge dies meistens mit existenziell belasteten Situationen wie etwa einer schweren Krankheit oder tief gehenden Lebenskrise zusammen, die mit unterschiedlichsten Ängsten einhergehe.
 
Sozialpolitisch gegensteuern
 
„Ein reiches Land, das einen zunehmenden Druck auf Alte, Schwache, Kranke, Schwerkranke, Sterbende und Lebensmüde befürchtet, hat sozialpolitisch Möglichkeiten dagegen zu steuern“, betont Kohlen. Etwa durch bessere Pflege für alle, Hilfen für Angehörige und neue Wohnformen. Das sei aber wohl viel anstrengender als sich mit einem neuen Gesetz zu beschäftigen.
 
Weitere Veranstaltungen
 
Weitere Themen der Reihe sind am Mittwoch, 23. Juni, um 18 Uhr „Pflegen und Sterben zu Hause“ sowie am Mittwoch 7. Juli, um 18 Uhr „Was galt früher, was gilt heute als gutes Sterben? Theologische und soziologische Anregungen“. Anmeldung unter www.sprengel-stade.de.


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