Demokratie ist kein Ponyhof
Angesichts andauernder Streiks - vor allem bei der Bahn - scheint das Verständnis in der Bevölkerung für die Streikenden zu schwinden, Stimmen für eine Beschränkung des Streikrechts werden lauter. Der Gewerkschaftsbund fordert unterdessen eine stärkere Fokussierung auf die Arbeitgeber.
In der vergangenen Woche endete der sechste Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokführer (GDL) erneut, ohne dass ein Ende der Streikwelle bei der Deutschen Bahn in Sicht ist. Gefordert wird unter anderem die allgemeine Entgelterhöhung um 555 Euro bei gleichzeitiger Absenkung der Arbeitszeit auf die 35-Stunden-Woche für Schichtarbeitende sowie die Einführung der Fünf-Schichten-Woche bzw. einer Arbeitsphase von maximal fünf Tagen.
Inzwischen werden immer mehr Stimmen laut, die den andauernden Streik als unverhältnismäßig und schädigend für den Wirtschaftsstandort Deutschland bezeichnen und die das Streikrecht einschränken wollen. So fordert Reinhard Houben, wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, eine gesetzliche Regelung von Streikmaßnahmen, die die Infrastruktur oder die Stromversorgung betreffen.
Streik ist kein Grundrecht
Ein reines Streikgesetz gibt es nämlich in Deutschland gar nicht. Der Streik ist in Deutschland zudem kein Grundrecht. Allerdings schützt das Grundgesetz mit Artikel 9, Absatz 3 Arbeitskämpfe, die zum Zweck des Abschlusses von Tarifverträgen geführt werden.
Konkret muss ein Streik zum Ziel haben, den Abschluss eines Tarifvertrages zu einem bestimmten Regelungsgegenstand zu erreichen. Politische Streiks und sogenannte wilde Streiks, die von Arbeitnehmern ohne gewerkschaftliche Unterstützung durchgeführt werden, sind nicht erlaubt. Auch Beamte und Richter:innen dürfen nicht streiken.
Während des Streiks ruht die Arbeitspflicht der streikenden Arbeitnehmer ebenso wie die Entgeltpflicht der Arbeitgeber. Die Gewerkschaften zahlen in diesem Fall ein Streikgeld, dessen Höhe sich nach dem aktuellen Einkommen des streikenden Mitglieds sowie nach dessen gewerkschaftlichen Mitgliedsbeitrag richtet.
Genervt vom Streik
Dass durch den Arbeitskampf der GDL Menschen massiv eingeschränkt werden, wird Mika Schloo langsam zu viel. Er ist einer von mehreren Bahnfahrenden, die die Anzeiger-Redaktion an Bahnhöfen nach ihrer Meinung gefragt hat. Streiken sei an sich eine gute Sache, aber mittlerweile übertreibe es die Gewerkschaft, so Schloo. Ähnlich sieht es auch Bjarne Schiemann. Hier werde das Streikrecht ausgenutzt, denn es gehe offensichtlich nicht mehr um arbeitsrechtliche Aspekte, um auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, sondern nur noch um den Frust der Mitarbeitenden. Der Streik treffe die Bahnfahrenden mehr als den Arbeitgeber, sagt Annika. Natürlich sei es wichtig, Widerstand zu zeigen, aber vielleicht anders. GDL-Chef Weselsky nutze seine Macht aus. Andreas Hendrian ist auch genervt vom Streik bei der Bahn, hat aber auch Verständnis für die Streikenden, die ihre Ziele erreichen wollen.
Wichtig für die Demokratie
Mehr Solidarität mit den Streikenden und eine stärkere Fokussierung auf die Arbeitgeber - besonders in Fällen, wo unfaire Arbeitsbedingungen und unzureichende Lohnsteigerungen zur Norm werden - wünscht sich Nils Bassen, Vorsitzender des DGB KV Rotenburg. Eingriffe in das Streikrecht lehnt er ab, da das Streikrecht unerlässlich für die Wahrung der Demokratie und gerechter Arbeitsbedingungen sei.
„Wir hinken seit Jahren mit den Löhnen der Inflation hinterher – das haben die Streikenden verstanden und auch ihre Unterstützerinnen und Unterstützer. Konflikte sollten zwar primär durch Dialog gelöst werden, doch die öffentliche Unterstützung für Streikende ist entscheidend, um Druck auf die Arbeitgeber auszuüben und gerechte Lösungen zu erzielen“, sagt Bassen.
Eine stärkere Unterstützung innerhalb der Bevölkerung für die Anliegen der Arbeitnehmer:innen könne entscheidend sein, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Es zeige sich, dass eine mangelnde Solidarität die Durchsetzungskraft der Arbeitnehmer:innen schwäche.
Bassen betont zudem, dass die aktuelle Lohnentwicklung in Deutschland mit einer offiziellen Tariflohnerhöhung von nur 2,4% im Jahr 2023 für etwa 43% der Beschäftigten die Notwendigkeit des Streikrechts umso mehr verdeutliche. Trotz einer Gesamtnominallohnsteigerung von 6% und temporären Sonderzahlungen zur Inflationsbekämpfung bleibe die dauerhafte Erhöhung der Tariflöhne bescheiden. Dies stehe in scharfem Kontrast zu den hohen Inflationsraten und den medial hochgespielten Erwartungen an deutlich stärkere Lohnsteigerungen. Die Tatsache, dass die dauerhaften Tariflohnerhöhungen hinter der Inflationsrate zurückbleiben, unterstreiche die Bedeutung von Streikaktionen als Mittel für Arbeitnehmer:innen, um ihre Kaufkraft zu schützen und gerechte Löhne zu sichern.
Hinzuzufügen hinsichtlich der Bahn ist, dass Profite, Fahrgastzahlen und Aufgaben der Beschäftigen in den letzten Jahren gewachsen sind, nur die Löhne nicht.
Für eine Stärkung der Tarifbindung
Mario Böschen, Vorsitzender des DGB KV Osterholz, weist auf die DGB-Kampagne zur Stärkung der Tarifbindung hin. Eine hohe Tarifbindung sei für alle gut, aber nur noch die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland werde nach Tarif bezahlt. „Tarifverträge regeln Wettbewerbsbedingungen unter den Unternehmen, ermöglichen gute Arbeitsbedingungen, fördern die Gleichstellung der Geschlechter und zwischen Ost und West. Sie sind antirassistisch. Sie verhindern Altersarmut. Und es fließt mehr Geld in öffentliche Kassen. Und wer mitbestimmt, wird auch gesehen. Auch das ist wichtig in einer Demokratie. Das Recht zu streiken ist daher elementar, um Forderungen Nachdruck zu verleihen“, sagt Mario Böschen.