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Ralf G. Poppe

Dem Grauen einen Namen geben

Bremervörde. Am 17. November 1941 wurden Mitglieder der Beverstedter Familie Brumsack von den Nationalsozialisten aus ihrem Heimatort verschleppt, weil sie Juden waren. Um ihre Schicksale zu beleuchten, hielt der frühere Bürgermeister Martin bensen einen Vortrag an der Findorff-Realschule.

Bettina Paquet, Klassenlehrerin der 6c, hatte Martin Bensen eingeladen, um im Unterricht das Schicksal jüdischer Bürger:innen zu diskutieren, die im Krieg in Konzentrationslager deportiert wurden und niemals zurückkehrten.
Martin Bensen (Jahrgang 1940) hat als ehrenamtlicher Bürgermeister ein Vierteljahrhundert die Geschicke des Fleckens Beverstedt geleitet. 1968 war er der jüngste Abgeordnete des Kreistags Wesermünde, als Vorsitzender des SPD-Ortsvereins 1969 Gastgeber für einen Wahlkampfauftritt des damaligen Außenministers Willy Brandt. Bensen ist Lehrer im Ruhestand. So konnte er sich gut in die Gedankengänge von Paquet einfühlen, die für ihre Realschulklasse 6c verschiedene Gruppenthemen als Vorbereitung zu Bensens Beitrag erarbeitet hatte, nachdem sie ihn in Beverstedt besucht, seine Sammlung zum Thema, Zitate, Fotos und das gemeinsame Gespräch zu einer Power Point-Präsentation verarbeitet hatte. Im Unterricht wurden z.B. Bräuche im Judentum, familiäre Feiern, sowie herausragende Persönlichkeiten thematisiert.
 
Unbescholtene Beverstedter Bürger:innen
 
Inhaltlich wurden die Lebensläufe von Grete, Emma, Rosa, Arnold, Hans-Leo und Siegfried Brumsack sowie von Selma, Margot und Ingeborg Goldberger aufgearbeitet. Menschen, deren Familien seit mehr als 100 Jahren in Beverstedt gelebt hatten, und die seinerzeit von Woche zu Woche mehr schikaniert wurden. Ihnen wurden Kredite entzogen, Strafgelder auferlegt. Letztendlich starben die Brumsacks und Goldbergers in verschiedenen Lagern einen grausamen Tod. Ihre Möbel wurden meistbietend versteigert.
Bensen fragt sich, ob man damals überhaupt zur Auktion hätte hingehen müssen. „Wäre niemand gekommen, hätte die Gestapo (= geheime Staatspolizei des deutschen NS-Regimes) niemanden verhaften können. Das wäre ein Zeichen, alle Einwohner wären gleichermaßen verdächtig gewesen“, ist der 81-jährige überzeugt. Wenn man nur zur richtigen Zeit nichts getan hätte, wäre das in einem totalitären System auch eine Aussage. Mit diesem Statement konnte Bensen die Frage eines Schülers zu einem der heikelsten Themen, die diskutiert wurden, beantworten. Der Schüler hatte sich gefragt, ob die Bürger unschuldig am Schicksal der Familien waren, weil sie „quasi“ gezwungen worden waren, mitzumachen.
 
Mit einem Schlaflied in den Tod
 
Weiterhin wurde das Leben von Ilse Weber, einer tschechoslowakischen deutschsprachigen jüdischen Schriftstellerin, thematisiert. Weber arbeitete nach ihrer Deportation in das Konzentrationslager Theresienstadt als Krankenschwester. Als die Kinderkrankenstube nach Ausschwitz deportiert werden sollte, meldete sie sich freiwillig, um die Kinder zu begleiten. Sie wollte die Kleinen nicht allein lassen. Im KZ Auschwitz angekommen, fragte Weber laut Zeitzeugen einen Häftling, ob es stimmen würde, dass sie nach der Reise duschen dürften. Der ihr aus Theresienstadt bekannte Leichenträger wollte nicht lügen, antwortete daher laut Überlieferung sinngemäß, „dass hier ist kein Duschraum, sondern eine Gaskammer.“ Er gab angeblich den Rat, Weber solle sich mit den Kindern hinsetzen, und anfangen zu singen. „Singe, was du immer gesungen hast. So atmet ihr das Gas schneller ein. Sonst werdet ihr von den anderen zu Tode getreten, wenn Panik ausbricht“ soll er ihr geraten haben. Webers Reaktion war seltsam. Sie umarmte angeblich eines der Kinder und sagte: „Also werden wir nicht duschen.“ Sie soll mit den Kindern ihr in Theresienstadt komponiertes Schlaflied „Wiegala“ gesungen haben, und ist gemeinsam mit den Kindern in den Tod gegangen.
 
Jede Zahl ein Leben
 
Paquet bestätigt auf Nachfrage, dass die Kinder die zwei Stunden am Stück gut durchgehalten hätten, obwohl es natürlich sehr viel Input gewesen sei. Die Schüler:innen hätten das Thema sehr gut angenommen, sich gut einfühlen können. Später (als Jugendliche), so Paquet, würden Kinder abgeklärter reagieren. Doch sie wolle nicht nur Zahlen aus dem Geschichtsbuch besprechen, „denn hinter jeder Zahl steht schließlich ein ganzes Leben“.
Bensen bestätigt die Herangehensweise: „Durch die gute Vorbereitung von Frau Paquet hatte ich das Glück, den Kindern in die Augen gucken zu können. Ich hatte den Eindruck, dass die Kinder kaum abgeschaltet, alles gut wahrgenommen haben“.


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