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Lena Stehr

Angst frisst Seele

Im dritten Jahr der Coronapandemie steigt der Anteil der Menschen mit psychischen Problemen. Gleichzeitig fehlt es an Facharztpraxen und ambulanten Hilfsangeboten.

Psychische Leiden nehmen zu - 
vor allem bei Männern

Psychische Leiden nehmen zu - vor allem bei Männern

Bild: depositphotos/ Wavebreakmedia

Bundesweit rund 57.500 Krankschreibungen mit 2,3 Millionen Fehltagen wegen seelischer Leiden hat die KKH Kaufmännische Krankenkasse im vergangenen Jahr registriert. Im Vergleich zu 2021 ist das ein Plus von rund 16 Prozent. Am meisten betroffen waren Arbeitnehmer:innen in der Krankenpflege sowie in der Erziehung und Sozialarbeit.

 

Männer holen auf

 

Auffällig: Die Krise scheint den Männern stärker auf die Seele zu schlagen als den Frauen. Zwar sind nach wie vor deutlich mehr Arbeitnehmerinnen von psychischen Erkrankungen betroffen, die Männer holen jedoch auf: Bei ihnen verzeichnet die KKH bei sämtlichen Diagnosen einen deutlich größeren Anstieg als bei den Frauen, vor allem mit Blick auf Angststörungen und somatoforme Störungen, also psychosomatisch bedingter Beschwerden wie Bauch- oder Kopfschmerzen ohne organische Ursache.

Mittlerweile liegt der Anteil der Männer mit psychischen Erkrankungen insgesamt bei fast 34 Prozent. Der Anteil der Frauen ist 2022 entsprechend auf insgesamt rund 66 Prozent gesunken. Im ersten Corona-Jahr 2020 betrug das Verhältnis noch 31 zu 69 Prozent.

Dass es mehr Männern psychisch schlechter geht, könne laut KKH-Arbeitspsychologin Antje Judick daran liegen, dass viele während der Pandemie den Vereinssport aufgeben mussten. Der Bewegungsmangel und der fehlende soziale Austausch scheine sich nachhaltig negativ auf die Psyche ausgewirkt zu haben.

Die Coronakrise habe darüber hinaus den Arbeitsmarkt negativ beeinflusst, vor allem den privaten Sektor, in dem mehr Männer als Frauen beschäftigt sind. Mit Krieg und Teuerung seien zudem noch mehr Unsicherheitsfaktoren hinzugekommen. „Da sich Männer häufig mehr Sorgen um ihre Perspektiven im Job und die wirtschaftliche Situation ihrer Familie machen als Frauen, leiden sie möglicherweise besonders stark unter Existenzängsten und dem Ohnmachtsgefühl, ihrem Verantwortungsanspruch nicht mehr gerecht werden zu können“, ordnet die KKH-Expertin ein.

Dass die Männer nun so stark aufholen, zeige, dass sie einen sehr hohen Leidensdruck haben. Denn in der Regel seien Männer nicht weniger krank als Frauen. Sie verdrängen Gesundheitsthemen aber eher und stürzen sich in die Arbeit oder entwickeln Suchtproblematiken und sehen den Arztbesuch häufig als letzte Option. Frauen hingegen seien schneller bereit, sich medizinische Hilfe zu holen und erhalten deshalb auch mehr Diagnosen.

 

Zu wenig Therapieangebote

 

Dass es immer mehr Menschen gibt, die psychisch erkranken, bestätigt auch Dagmar Terbeck-Paul, Leiterin der Kontakt-, Informations- und Beratungsstelle für Selbsthilfe des Paritätischen Osterholz (KIBS). Während der Corona-Pandemie habe sich die Anzahl der Beratungsgespräche bei der KIBS drastisch erhöht, zur Zeit sei eine Häufung der Anrufe hinsichtlich Anfragen nach Selbsthilfegruppen, aber auch nach anderen Unterstützungsangeboten zu verzeichnen. „Die Menschen suchen Psychiater und Therapeuten, finden aber keine, da die Versorgungslage in der Region so schlecht ist“, sagt Terbeck-Paul.

Bitter sei, dass für die im Januar geschlossene Psychiatrie-Praxis von Wolf-Peter Schmidt in Osterholz-Scharmbeck kein/e Nachfolger:in gefunden werden konnte. Mehr als 1.000 Patientinnen seien davon betroffen. Aufgrund des Fachärztemangels müssten inzwischen viele Betroffene in ihrer Hausarztpraxis neu mit Medikamenten eingestellt werden, obwohl die Allgemeinmediziner:innen dafür gar nicht ausgebildet seien, sagt Terbeck-Paul. Und obwohl die insgesamt zehn Selbsthilfegruppen für die Bereiche Angststörungen und Depressionen im Landkreis Osterholz zur Stabilisierung der Betroffenen eine wichtige Rolle spielen, könnten sie doch die Therapie nicht ersetzen. Einige Gruppen seien zudem voll, eine neue Gruppe speziell für Männer befinde sich aber gerade in Gründung.

Auch Veronika Czech von der Zentralen Informationsstelle Selbsthilfe Selbsthilfekontaktstelle (ZISS) im Landkreis Rotenburg Wümme stellt fest, dass es immer mehr Menschen - insbesondere auch Kinder und Jugendliche - gibt, die an psychischen Erkrankungen leiden. Das Agaplesion Diakonieklinikum Rotenburg sei hier eine gute Anlaufstelle, doch auch dort sei die Personaldecke dünn. Ambulante Angebote gebe es insgesamt zu wenig. Mit drei neu gegründeten Selbsthilfegruppen gibt es jetzt fünf Gruppen im Landkreis für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Für Jugendliche zwischen 15 und 25 gibt es zusätzlich u.a. noch die „Kopfwerkstatt“ in Rotenburg sowie das Schulprojekt „Verrückt, Na und!“, in das auch der Psychologe Henner Spierling vom Sozialpädiatrischen Zentrum des Agaplesion Diakonieklinikums involviert ist. Er ist einer der Interviewpartner unserer Serie zum Thema seelische Gesundheit. Teil 1 auf Seite xx.Ebenso zum Thema der Kommentar auf Seite xx


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