Die stille Epidemie
„Es gibt wahrscheinlich keine andere Erkrankung, die so häufig und schwer und dabei so untererforscht und unbekannt ist, wie ME/CFS.“ So steht es auf den Plakaten einer Aufklärungskampagne zur schweren Multisystemerkrankung Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome. ME/CFS tritt meist nach Infektionen auf, kann aber auch andere Auslöser haben. Viele Menschen mit Post-COVID-Syndrom entwickeln diese Krankheit.
2023 registrierte die Kassenärztliche Bundesvereinigung bundesweit 620.000 Behandlungsfälle in kassenärztlichen Praxen mit der Diagnose ME/CFS. Die Dunkelziffer ist erheblich höher. Denn schon eine Diagnose zu erhalten, stellt für viele eine kaum überwindbare Hürde dar. Obwohl ME/CFS seit 1969 in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten der WHO als neurologische Erkrankung geführt wird, ist sie den meisten Ärzten weitgehend unbekannt. Dabei beeinträchtigt ME/CFS die Lebensqualität oft stärker als Multiple Sklerose, HIV oder Krebs. Viele Mediziner sehen sich trotzdem außerstande, die Krankheit zu diagnostizieren. Die Anerkennung als eigenständiges Krankheitsbild ist zwar formal gegeben, in der medizinischen Praxis jedoch oft bedeutungslos.
Ohne Therapie, ohne Zugang
Hinzu kommt: Es gibt bislang keine zugelassene kurative Behandlung. Kein einziges Medikament ist offiziell für ME/CFS zugelassen. Viele Patienten müssen ihre Medikamente daher selbst bezahlen, sofern sie überhaupt welche erhalten. Eine Expertnengruppe des Bundesgesundheitsministeriums wurde zwar im Jahr 2023 einberufen, um eine Liste von Medikamenten für den Off-Label-Use zu erstellen. Doch bis heute liegt keine solche Liste vor. Selbst wenn sie erscheint, wäre der Zugang weiterhin an die Diagnose gebunden – die viele Betroffene nicht erhalten.
Als Begründung für die ausbleibende Diagnose nennen Ärzte häufig das Fehlen von Biomarkern. Tatsächlich beruht die Diagnostik derzeit auf klinischen Kriterien wie den Kanadischen Konsenskriterien und dem Ausschluss anderer Ursachen. Das ist bei anderen Erkrankungen nicht anders. Dennoch ist die Versorgungslage für ME/CFS-Betroffene besonders prekär.
Medizinischer Sexismus
Die Forschungslage ist desolat. Der Grund: Jahrzehntelange Unterfinanzierung. Obwohl die WHO die Krankheit seit 55 Jahren anerkennt, wurde sie wissenschaftlich kaum erforscht. Dafür gibt es mindestens zwei Ursachen. Erstens betrifft ME/CFS überdurchschnittlich viele Frauen. Und wie auch bei anderen frauenspezifischen Erkrankungen wurde ME/CFS in der von Männern dominierten Medizin nicht ernst genommen. Zweitens wird ME/CFS häufig fälschlich als psychosomatisches Leiden eingeordnet, obwohl es klare körperlich-organische Ursachen gibt.
PEM: Das Leitsymptom mit fataler Wirkung
Das zentrale Symptom von ME/CFS ist die sogenannte Post-Exertionelle Malaise (PEM), auch bekannt als Post-Exertionelle Neuroimmune Exhaustion (PENE). Es handelt sich um eine zeitverzögerte und oft anhaltende Verschlechterung des Zustands nach geringster körperlicher oder geistiger Belastung. Symptome wie Schmerzen, Schlafstörungen, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme, autonome Dysfunktionen, Herzrasen, Schwindel, grippeartige Beschwerden, extreme Schwäche und Reizüberempfindlichkeit verschlimmern sich.
Als derzeit wichtigste Strategie zur Krankheitsbewältigung gilt das sogenannte Pacing, also ein individuelles Energiemanagement. Betroffene versuchen, ihre Belastungsgrenzen zu erkennen und nicht zu überschreiten, um Zustandsverschlechterungen zu vermeiden. Doch bei schweren Verläufen ist selbst das kaum mehr umsetzbar. Bereits alltägliche Aktivitäten wie Körperpflege, Essen oder minimale Bewegung werden zur Überforderung.
Eine bessere Forschungsförderung ist deshalb unerlässlich – für Ursachenforschung, Diagnostik, Therapieentwicklung und gesellschaftliche Anerkennung.

Ohne Moos nichts los
Bildung, die zu den Menschen kommt
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