Lion Immoor

Blind gegenüber dem Einzelnen

Viele Anträge werden von Ämtern oft direkt abgelehnt – selbst dort, wo Gefahr für das eigene Leben besteht. Zwei Beispiele aus dem Landkreis Osterholz machen deutlich, wie stark Betroffene auf Unterstützung angewiesen sind und wie spät sie diese jedoch oft erhalten.

 

Bild: Robert Kneschke

Eine 87-jährige Frau aus Osterholz-Scharmbeck musste monatelang ohne ausreichende Duschabtrennung auskommen, obwohl ihr Bad nach jeder Dusche unter Wasser stand. „Das ist sehr gefährlich und das Risiko zu stürzen sehr hoch“, erzählt ihr Sohn. Die Frau hat Pflegegrad 3 und wird deshalb von einem Pflegedienst gewaschen. Da dieser jedoch immer nur kurz vor Ort ist, blieb keine Zeit, um das Badezimmer noch trockenzuwischen. Eine feste Duschabtrennung sollte helfen, doch die beantragte Kostenübernahme bei der zuständigen Pflegekasse wurde abgelehnt. Die Duschwand sei nicht als Umbaumaßnahme anerkannt – individuelle Bedürfnisse der Frau wurden nicht berücksichtigt.

Der Sohn wendete sich an das SoVD-Beratungszentrum in Osterholz-Scharmbeck. Rechtsanwalt Helge Grote, der das SoVD-Beratungszentrum leitet, übermittelte sowohl Fotos als auch eine ausführliche Widerspruchsbegründung. Nach mehreren Monaten kam von der Pflegekasse eine positive Rückmeldung: die Kosten für den nötigen Umbau werden übernommen.

 

Um Pflegegrad kämpfen

In einem zweiten Fall aus dem Landkreis kämpfte ein 80-jähriger Mann um die korrekte Einstufung seines Pflegegrades. Der Medizinische Dienst (MD) begutachtete seinen fall ausschließlich nach Aktenlage und per Telefon – mit dem Ergebnis eines zu niedrigen Pflegegrades.

Der Mann ist nach der Diagnose „Grüner Star“ auf seinem linken Auge komplett blind. Auf seinem rechten Auge hat er eine Sehkraft von nur einem Prozent. Im Jahr 2022 bekam er den Pflegegrad 1, doch das reicht nicht. Bei der gewünschten Höherstufung wurde ihm der Pflegegrad 2 zugeteilt – ein ernüchterndes Ergebnis für ihn und seine Familie, da er im alltäglichen Leben immer auf Hilfe angewiesen ist. „Beim Spazierengehen bin ich auf meine frau angewiesen und mein Nachbar geht mit mir einkaufen. Vieles davon wurde gar nicht berücksichtigt“, erklärt er.

Auch hier übernahm Helge Grote den Fall. Seiner Auffassung nach entsprächen die Einschränkungen des Mannes auf jeden Fall dem Pflegegrad 3. Am Ende hatte der SoVD auch in diesem Fall Erfolg und der Mann erhielt den Pflegegrad 3.

 

SoVD legt „Schwarzbuch sozial“ vor

Die beiden Beispiele sind Teil des neuen „Schwarzbuch sozial“, das der Sozialverband Deutschland in Niedersachsen am 26. November vorgestellt hat. Darin sammelt der Verband mehr als 20 Fälle aus seinem Beratungsgebiet. Die Beispiele zeigten laut SoVD, wie häufig Bürger:innen von Fehlentscheidungen der Behörden betroffen sind – besonders Menschen mit Behinderung, Pflegebedürftige oder Erkrankte, die nicht mehr arbeiten können.

„Recht haben und Recht bekommen sind leider sehr oft zwei unterschiedliche Paar Schuhe“, heißt es bei der Veröffentlichung. Seit 2022 sei die Zahl der Beratung- und Widerspruchsverfahren beim SoVD Niedersachsen um 25 Prozent gestiegen. Im vergangenen Jahr führte der verband mehr als 50.000 Verfahren und erstritt rund 57,5 Millionen Euro an Nachzahlungen.

 

Kritik an Begutachtungen und hohen Eigenanteilen

Nach Angaben des SoVD beruhen viele Fehlentscheidungen auf unzureichender Berücksichtigung der individuellen Lebenssituation. Häufig werde ausschließlich nach Aktenlage entschieden, ohne persönliche Begutachtung. Gerade bei der Feststellung von Behinderungsgraden oder Merkzeichen sei fast jede vierte Entscheidung falsch.

Auch die Situation in der Pflege ist Thema des Schwarzbuchs. Die hohen Eigenanteile in Pflegeheimen führten dazu, dass selbst Menschen mit auskömmlichen Renten in die Sozialhilfe rutschen könnten. „Es kann nicht sein, dass eine Seniorin mit einer sehr guten Rente kurz davorsteht, Hilfe zur Pflege beantragen zu müssen, weil sie die Kosten nicht mehr stemmen kann“, so Katharina Lorenz, Leiterin der Abteilung Sozialpolitik beim SoVD Niedersachsen. Das Land Niedersachsen müsse die Investitionskosten der Heime wieder übernehmen – dadurch könnten Pflegebedürftige im Schnitt um 500 Euro im Monat entlastet werden. Das Argument, dass das Geld dafür nicht da sei, sei falsch. Im Moment müssen die Kommunen immer mehr Hilfe zur Pflege übernehmen – das Land zahlt nicht.

 

Verband fordert politische Reformen

Der SoVD appelliert an Behörden sowie Pflege- und Krankenkassen, individuelle Bedürfnisse stärker zu berücksichtigen. Betroffene sollten sich durch ablehnende Bescheide nicht entmutigen lassen. Für viele Menschen sei der Verband inzwischen die letzte Anlaufstelle: „Die Zahl derjenigen, die nicht mehr weiterwissen und überfordert sind, nimmt zu“, sagt der SoVD-Vorstandsvorstizende Dirk Swinke.

Das „Schwarbuch sozial“ ist im Internet unter www.sovd-nds.de im Bereich Service/Flyer und Broschüren zu finden.


UNTERNEHMEN DER REGION

E-PaperMarktplatzStellenmarktZusteller werdenLeserreiseMagazineNotdienst BremervördeNotdienst OHZReklamationgewinnspielformular