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Benjamin Moldenhauer

Wie eine Liebe aus dem Fenster stürzt

Justine Triet und Arthur Harari haben mit "Anatomie eines Falls" einen Krimi geschaffen, der eindringlich  Fragen über die Liebe und das Leben aufwirft.

Sandra (Sandra Hüller) steht in Verdacht, ihren Mann Samuel (Samuel Theis) getötet zu haben,

Sandra (Sandra Hüller) steht in Verdacht, ihren Mann Samuel (Samuel Theis) getötet zu haben,

Wer ist‘s gewesen? Die Rätselfrage, die zahlreiche Krimis klassischerweise antreibt und strukturiert, läuft meist auf eine klare Klärung zu. Am Ende ist klar, wer dem Familienoberhaupt, dem Vorstandsvorsitzenden oder dem Nebenbuhler das Messer in den Rücken gerammt hat. Oft ist es der Gärtner, aber infrage kommen natürlich auch Geschäftspartner, Gekränkte jeder Coleur, Erben und vor allem aktuell eingetragene oder ehemalige Ehegattinnen und -gatten. Und der Reiz für Leser beziehungsweise Zuschauer besteht darin, ob er mit den eigenen Vermutungen richtiggelegen hat oder eben nicht. Und, nicht zuletzt, darin nachzuvollziehen, auf welche Abwege die Erzählung einen leiten will und ob man trotzdem mit seinen Verdächtigungen recht behält.

Die Regisseurin Justine Triet und ihr Co-Autor Arthur Harari (mit dem zusammen Triet bereits das Drehbuch für den ebenfalls großartigen Sybil - Therapie zwecklos verfasst hat), haben sich für ihren vielfach prämierten Film Anatomie eines Falls für eine kompliziertere und in mehrerer Hinsicht interessantere Variante entschieden. Es geht nun nicht mehr darum, ob die Frau den Mann umgebracht hat oder nicht. Oder zumindest nicht in erster Linie. Spätestens mit dem Abspann wird klar, dass die Frage, die Zuschauer sich hier stellen sollen, eine andere ist: Warum bin ich auf die Idee gekommen, welche Sätze, Gesten, welche eigenen Erfahrungen haben mich zu der Einschätzung gebracht, dass sie es gewesen ist? Oder eben nicht?

So viel kann man vorwegnehmen, ohne zu spoilern: Anatomie eines Falls verweigert die Auflösung, am Ende bleibt eine filmisch sorgfältig austarierte Ambivalenz. Es könnte so gewesen sein; gewesen sein könnte es aber auch anders. Das Thema des Films ist nicht die Aufklärung der Täterschaft, sondern die Frage nach dem Warum. Und dementsprechend entfalten Skript, Kamera und die hervorragenden Schauspieler nicht nur die Anatomie eines Falls, sondern auch die einer Beziehung.

 

Der Fenstersturz

 

Der Plot ist eigentlich einfach: In der Ehe von Sandra (Sandra Hüller) und Samuel (Swann Arlaud) kriselt es, sie ist frustriert, hatte Affären und ist als Autorin beruflich erfolgreicher als er. Ihr Sohn Daniel (Milo Machado Graner) ist nach einem Unfall nahezu blind, und Samuel fühlt sich verantwortlich. Sandra wiederum ist für Samuel aus der Stadt in die Natur, in die französischen Alpen bei Grenoble gezogen. Eine wunderschöne, tödlich langweilige Umgebung. Eifersucht, Missgunst, Enttäuschung, Schuldgefühle und narzisstische Kränkung sind mehr als genug, wenn es darum geht, eine Beziehung zu ruinieren, und als Samuel eines Tages aus dem Fenster stürzt und stirbt, fällt der Verdacht schnell auf Sandra.

 

Detaillierte Destruktivität

 

Die Ausführlichkeit, die Vielschichtigkeit und die Genauigkeit, mit der der Film seine Geschichte erzählt, sind tatsächlich einzigartig. Jedes Detail fügt sich mit mehreren anderen Details zusammen, und es geht nicht nur um zwei Menschen, sondern, abgeleitet sozusagen, um Fragen nach Verbindlichkeit, Treue, Schuld, Vergebung, häuslicher Gewalt, Kränkung. Insofern zeichnet Anatomie eines Falls ein eigentlich geradezu analytisches Bild einer Beziehung. Im Zuge der Ermittlungen und des Prozesses, der in seiner Detailgenauigkeit über die Standards sonstiger Justizdramen weit hinausgeht, wird die destruktive Dynamik einer eigentlich bereits toten oder, auch ohne Fenstersturz, tödlichen, im Sinne von entlebendigten Beziehung rekonstruiert. Oder besser: einer Beziehung, in der die beidseitige Destruktivität das einzig noch Lebendige ist, das die Liebenden aneinander festhalten lässt. Neben dem gemeinsamen Kind natürlich.

 

Der Film entscheidet nicht

 

Dass die Auflösung am Ende verweigert wird, wirft die Zuschauer auf sich selbst zurück. Die Frage, für was man sich entscheidet, nicht nur in Hinsicht auf die Schuldfrage, sondern auch hinsichtlich der Frage, was man von diesem oder jenen Aspekt der Liebesbeziehung und der Ehe, die hier für einen seziert wird, hält, auf was man gleichgültig reagiert und was einen berührt - es entscheidet nicht, wie sonst weitgehend, der Film für einen, indem er mittels Musik, Kameraführung und Schauspieltechnik klarmacht, wo die Reise emotional und moralisch hingeht. Man entscheidet es selbst, weil es anders ja nicht geht. Es gibt wohl kaum einen Film, nach dem man mit dem, der oder den Liebsten so aufschlussreiche Gespräche über das Leben, die Liebe und den Rest führen kann.

 

Anatomie eines Falls läuft am Dienstag, 7. Mai, und Mittwoch, 8. Mai, um 20.15 in den Ritterhuder Lichtspielen.


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