

Es gibt Menschen, deren Leben schief beginnt und sich dann zu einer Abfolge von Pech-, Verstörungs- und Leidenserfahrungen entwickelt. Grace und Gilbert sind zwei solcher Menschen. Ein kurzer Abriss der Unglücksexistenz: Grace’ Mutter stirbt bei der Geburt ihrer Tochter. Ihr Vater, ein französischer Straßenkünstler, der seinem Herzen folgend nach Australien ausgewandert war, bleibt mit den Zwillingen allein zurück und säuft sich kaputt. Er wacht eines Tages nicht mehr auf, die beiden Kinder sind auf sich allein gestellt und werden voneinander getrennt, weil niemand Zwillinge adoptieren will.
Kein Kinderfilm trotz Knete
Bis dahin war Gilbert der Beschützer von Grace, die mit einer Hasenscharte geboren wurde und dick ist und in der Schule gemobbt wird. Die Bilder, die „Memoiren einer Schnecke“ für die Reihung von Demütigungen, Verlusten und Trauer findet, lösen den Film schnell aus dem Register des Kinderfilms, Knetfigurenästhetik hin, Knetfigurenästhetik her. Gilbert bricht dem Peiniger seiner Schwester den Finger, das sieht man in Nahaufnahme, und das Knochenknacken ist wirklich laut. Die zahlreichen Tode sind in diesem Film kein sanftes Wegdämmern, sondern in unterschiedlicher Weise als schockierend und traumatisierend inszeniert.
Hingabe an die Bilder
Grace jedenfalls hat nach dem Tod des Vaters Glück, zumindest in Relation zum Schicksal ihres Bruders. Sie kommt zu einem Paar, das sich sehr um die Adoptivtochter bemüht, aber dann doch lieber in den Swingerclub geht und später in eine Nudistenkolonie zieht. Gilbert wird in eine Großfamilie von lebensfeindlichen religiösen Fanatikern gesteckt. Es beginnt ein regelrechtes Martyrium, das am Ende schrecklich eskaliert.
Beide sind zutiefst einsam, und Elliott hat für diese sowohl banale wie auch existenzielle Verlorenheit eindrucksvolle Bilder gefunden. Ein kleines Team hat mitgearbeitet, der Hauptteil aber kommt vom Regisseur selbst. Acht Jahre lang hat Adam Elliott in unwahrscheinlicher Ausdauer Figuren und Hintergründe geknetet. Man sieht „Memoiren einer Schnecke“ in jeder Einstellung an, wie viel Sorgfalt und Detailarbeit hier eingeflossen sind.
Seltsame Leichtigkeit
Die Ästhetik des Films steht in leiser Spannung zu der tieftraurigen Geschichte. Großaugen, skurrile Körperformen drücken Emotionen und inneres Erleben der Figuren denkbar expressiv aus. Es dominieren gedeckte Farben und Grau- und Brauntöne. Die Figuren aber sind gerade in ihrer bestechenden Hässlichkeit liebenswert. Und vor allem sehr anrührend. Das Leid, die Kränkung und Beschämung, die das Skript auf die Zwillinge wirft, sind immens, und trotzdem bekommt alles durch die Bilder aus Knete eine seltsame Leichtigkeit.
Dass „Memoiren einer Schnecke“ am Ende versöhnliche Töne anschlägt, nimmt man dem Skript dann wiederum nicht ab. Die letzten zehn Minuten wirken, als wolle hier jemand gerade noch abbiegen, bevor die bis dahin doch recht radikale Negativität des Ganzen als erster und letzter Eindruck bleibt. Am deutlichsten wird das in der Inszenierung der Sexualität der Figuren. Das Leben lebt nicht, sozusagen, oder es darf nicht leben: Die Adoptiveltern machen schlimme Geräusche im Swingerclub, Grace’ erste und soweit wir sehen auch letzte große Liebe entpuppt sich als Fettfetischist, der sie mästet, und das kurze sexuelle Glück, das Gilbert erfährt, endet mit einem unfreiwilligen Brandopfer.
Jens Balzer sah in seiner Besprechung von „Memoiren einer Schnecke“ im Verlauf der Erzählung so etwas wie ein Wechselbad der Gefühle. Das kann man so sehen, wenn man möchte, vielleicht, aber meiner Wahrnehmung entspricht das nicht. Die Schlussvolte wirkt ungut konstruiert, in der Entfaltung einer alles umschließenden Depressivität ist der Film von einer unheimlichen Konsequenz. Ach so, und sehr komisch ist er, erstaunlich genug, außerdem.
Am Dienstag, den 16. Dezember, und am Mittwoch, den 17. Dezember, in den Ritterhuder Lichtspielen um 20 Uhr.




