

Es gibt im Horrorgenre Filme, die die auf sie folgenden zehn Jahre prägen. Für die Siebzigerjahre war es unter anderem „Der Exorcist“, für die Achtziger die mit „Freitag der 13.“ beginnende Welle an Slasherfilmen. Für die Neunzigerjahre war es „Das Schweigen der Lämmer“. Jonathan Demmes Verfilmung des Romans von Thomas Harris popularisierte den genialischen Serienmörder, der nach einem komplizierten Muster mordet, mit einem komplexen psychologischen Profil, das von Ermittlern dekodiert werden muss.
Das dämonische Genie
Das Wissen, dass Monster generell interessanter sind als ihre Opfer, war im Horror von Anfang an präsent. Alfred Hitchcocks „Psycho“ schenkte dem Mörder eine Psychologie – ein klassischer, unaufgelöster Ödipuskomplex, allerdings in eskalierender Form –, die am Ende des Films von einem Psychologen aufgedröselt werden muss. In „Das Schweigen der Lämmer“ ist der Mörder selbst Psychoanalytiker – und erkennt die verborgenen Konflikte seines Gegenübers noch durch die Panzerglasscheibe seiner Gefängniszelle.
Hannibal Lecter ist in der Verkörperung von Anthony Hopkins zur endgültigen Inkarnation des Serienmördergenies geworden. Eine, die – schaut man auf reale Vorbilder wie Ed Gein, Jeffrey Dahmer oder John Wayne Gacy – allemal phantastisch bleibt. Gerade in ihrer niederschmetternden Banalität wirken die echten Täter beklemmend. Da ist nichts Tiefes oder Dämonisches. Als die Heldin Clarice Starling, FBI-Auszubildende, Lecter zum ersten Mal im Gefängnis besucht, um mit ihm ein Täterprofil in einem anderen Fall zu erstellen, inszeniert Demme diesen Auftritt wie den eines dunklen Genies, das über den Normalsterblichen thront.
Anthony Hopkins’ Performance ist noch immer spektakulär, auch wenn die Figur heute latent unfreiwillig-komische Züge trägt – vielleicht auch einfach, weil sie so oft zitiert und parodiert wurde. Dass „Das Schweigen der Lämmer“ aber heute, über dreißig Jahre nach seiner Premiere, noch immer ausgesprochen gut funktioniert, liegt an seiner immensen Vielschichtigkeit. Die Zahl der erzählerischen, psychologischen und Bedeutungsebenen, die einander hier mit inszenatorischer Leichtigkeit durchdringen, ist groß. Drei von vielen:
„Das Schweigen der Lämmer“ als Klassendrama
Der Film erzählt von sozialem Aufstieg, männlicher Macht und Distinktion. Clarice Starling ist eine junge FBI-Auszubildende, stammt aus einfachen Verhältnissen und kämpft darum, in einer Welt männlicher, akademisch gebildeter, sozial privilegierter Autoritäten ernst genommen zu werden. Jede Interaktion in „Das Schweigen der Lämmer“ ist von einer sehr bewussten Wahrnehmung sozialer Unterschiede bestimmt. Clarices Körperausdruck, ihre Sprache und ihr Ehrgeiz verraten den Willen zum Dazugehören, aber auch die Unsicherheit der Außenseiterin.
Jodie Fosters Performance bildet in ihrer Subtilität und stillen Beharrlichkeit den Gegenpol zu Hopkins’ Theaterdonner. Sein Hannibal Lecter fungiert als Körper und Geist der Oberschicht: gebildet, kultiviert, rhetorisch überlegen. Und als kannibalistischer Herrenmensch eben auch als Verkörperung des Herrschenden, der seine Untertanen frisst. Lecter bringt Clarice auf ihrem Weg weiter und näher zu sich selbst – wie es sich für einen guten Psychoanalytiker gehört. Ihr Sieg am Ende ist Emanzipation und Anpassung zugleich.
„Das Schweigen der Lämmer“ als transphobe Angstphantasie
Auch Buffalo Bill, der Serienmörder, den Clarice Starling jagt, ist mit diesem Drama verbunden. Bill näht sich „eine Frau aus Frauenhaut“, um zu werden, was er selbst nicht ist. Sein Wunsch, sich eine neue Haut aus der Haut seiner weiblichen Opfer zu schaffen, ist eine monströse Verzerrung des amerikanischen Traums, sich selbst neu zu erfinden.
Die Figur erscheint heute, in Zeiten eines Kulturkampfs, der sich immer wieder an der Phantasie einer Auflösung biologischer Geschlechtlichkeit entzündet, als transphobe Angstphantasie. Obwohl es im Film ausdrücklich heißt, Bill sei „kein echter Transsexueller“, bleibt diese Unterscheidung für das Publikum weitgehend wirkungslos: Geschlechtstransformation wird mit Wahnsinn, Gewalt und Monstrosität verknüpft – und diese Verbindung wurde schon Anfang der Neunziger zurecht kritisiert. Gleichzeitig steht Clarice Starling als Verkörperung der normativen Geschlechtsordnung: biologisch weiblich, professionell kontrolliert, diszipliniert und moralisch integer. Ihre Aufgabe, das „Monster“ zu jagen, ist auch der Versuch, die angegriffene Geschlechterordnung wiederherzustellen.
„Das Schweigen der Lämmer“ als Spektakel
Der letzte und offensichtlichste Punkt ist die unverblümte Lust am Spektakel, die der Film zur Schau trägt. Nahezu jede Szene will einen maximalen Effekt. Lecters Flucht etwa wird als barockes Schauspiel inszeniert. Der Moment, in dem er einem Wachmann das Gesicht abzieht, um es sich selbst aufzuziehen, ist eine makabre, vor allem aber lustvolle Performance.
Der Film hat in diesen Momenten genau so viel Spaß am Bösen wie seine Figur. Demme zeigt Gewalt hier nicht als Selbstzweck, sondern als Inszenierung von Kontrolle und Verwandlung – Lecter wird selbst zum Regisseur, wenn man so will. „Das Schweigen der Lämmer“ zielt nicht nur als Psychothriller auf Angsterzeugung, sondern lässt die Lust am Genre direkt in seine Inszenierung einfließen. Zusammen mit mindestens sieben Subtextebenen.
„Das Schweigen der Lämmer“ läuft am Dienstag, 4. November, um 20.15 Uhr im Filmpalast Schwanewede.



